Mystic River
wollen in den Sechs-Uhr-Nachrichten jemanden sehen, der in Handschellen vorgeführt wird.« Friel stieß Sean an. »Hab ich Recht?«
»Ja.«
»Das wollen die Leute, weil sie wie wir sind und wir das auch wollen.« Friel fasste Sean an die Schulter, damit er ihn ansah.
»Ja, Sir«, wiederholte Sean, denn Friel hatte dieses seltsame Leuchten in den Augen, als glaube er an seine Worte, so wie manche an Gott oder die Nasdaq oder das Internet glaubten. Friel war ein wiedergeborener Christ, auch wenn Sean nicht wusste, worauf sich das »Wieder« bezog, er wusste nur, dass Friel in seiner Arbeit etwas gefunden hatte, das Sean nicht mal sehen konnte, etwas Trost Spendendes, vielleicht sogar einen Glauben, einen Boden unter den Füßen. Um ehrlich zu sein, dachte Sean manchmal, sein Chef sei ein Spinner, der alberne Platitüden über Leben und Tod von sich gab, über die Chance, alles richtig zu machen, den Krebs zu überwinden und zu einem einzigen, großen Organismus zusammenzuwachsen, wenn doch nur jeder mitmache.
Aber manchmal erinnerte Friel Sean auch an seinen Vater, der im Keller, wo niemals Vögel flogen, Vogelhäuschen baute, und Sean gefiel dieser Vergleich.
Martin Friel hatte als Detective Lieutenant der Mordkommission in der Baracke 6 schon mehrere Präsidenten überlebt, und soweit Sean wusste, hatte ihn nie einer »Marty«, »der Kleine« oder »der Alte« genannt. Auf der Straße hätte man ihn für einen Buchhalter oder vielleicht für den Schadensregulierer einer Versicherung gehalten, irgend so was. Er besaß eine ausdruckslose Stimme und ein ausdrucksloses Gesicht, und von seinem Haar war nur noch ein braunes Hufeisen übrig. Er war klein gewachsen, besonders für jemanden, der sich bei den State Troopern nach oben gearbeitet hatte; in einer Menschenmenge verlor man ihn schnell aus den Augen, weil sein Gang nichts Charakteristisches besaß. Er liebte seine Frau und die beiden Kinder, vergaß im Winter, seinen Skiausweis von der Daunenjacke abzunehmen, war aktiv in seiner Kirche, fiskalisch und politisch konservativ.
Aber worüber ausdruckslose Stimme und Gesicht hinwegtäuschten, war sein Intellekt – eine scharfe, bedingungslose Kombination aus Praxisnähe und moralischer Überzeugung. Beging man in Martin Friels Zuständigkeitsbereich ein Kapitalverbrechen, dann war das seins. Pech für den, der das nicht kapierte, denn Friel nahm es äußerst persönlich.
»Ich will, dass Sie die Augen offen halten, und ich will, dass Sie gereizt sind«, hatte er zu Sean an seinem ersten Tag bei der Mordkommission gesagt. »Ich will nicht, dass Sie Ihre Wut zur Schau stellen, denn Wut ist ein Gefühl, und Gefühle stellt man nicht zur Schau. Aber ich will, dass Sie immer gereizt sind – weil die Stühle hier zu hart sind und ihre ganzen Kumpels vom College inzwischen Audi fahren. Ich will, dass Sie gereizt sind, weil die Täter so dämlich sind zu glauben, dass sie ihre widerwärtige Scheiße in unserer Gegend abziehen können. So gereizt, Devine, dass Sie sich gründlich hinter alle Einzelheiten eines Falles klemmen, damit kein Staatsanwalt wegen fehlender Beweise oder nicht nachvollziehbarer Argumente aus dem Gerichtssaal fliegt. So gereizt, dass Sie jeden Fall sauber abschließen und diese dreckigen Schweine für den Rest ihres dreckigen Scheißlebens in dreckige Zellen sperren.«
In der Baracke wurde das »Friels Predigt« genannt und jeder neue Trooper in der Einheit musste es irgendwann einmal über sich ergehen lassen. Wie bei den meisten Sätzen, die Friel von sich gab, wusste niemand genau, ob er selbst glaubte, was er sagte, oder ob es einfach das übliche Blabla der Gesetzeshüter war. Aber man kaufte es ihm besser ab. Sonst war man erledigt.
Seit zwei Jahren war Sean bei der Mordkommission der State Police und hatte in dieser Zeit die beste Aufklärungsquote in Whitey Powers Mannschaft erzielt. Friel warf Sean gelegentlich einen Blick zu, als könne er ihn nicht richtig einschätzen. So schaute Friel ihn auch jetzt an, versuchte zu beurteilen, zu entscheiden, ob Sean mit der Situation zurechtkommen würde: ein Mädchen, ermordet in seinem Park.
Whitey Powers schlenderte zu ihnen herüber, blätterte seinen Notizblock durch und nickte kurz in Friels Richtung. »Lieutenant!«
»Sergeant Powers«, erwiderte Friel. »Was haben wir bis jetzt?«
»Nach vorläufigen Angaben liegt der Todeszeitpunkt ungefähr zwischen zwei Uhr fünfzehn und zwei Uhr dreißig heute Nacht. Keine Anzeichen für sexuelle
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