Mystic Tales - Sammelband mit 4 Romanen (German Edition)
hoch und hecheln. Sie ahnen, was auf sie zukommt. Sie laufen aufgeregt um die Tischbeine.
Emily schaudert es. Der beste Weg, jemanden aus dem Weg zu räumen ist ein Jagdunfall. Eine verirrte Kugel, ein wildgewordenes Tier. Ein unglücklicher Sturz vom Pferd. Es gibt viele Möglichkeiten. Gald ist ein konsequenter Mann. Er wird sich nicht in Gefahr begeben. Richard hat ihn bedroht. Jemand wie Gald reagiert sofort und wird niemals sein Leben aufs Spiel setzen.
» Jagd? « , stammelt Emily.
» Ich hörte, Sie reiten wie ein Mann und verstehen sich aufs Schießen. Nicht sehr damenhaft, aber interessant. «
» Seit wann geht man mit seiner Dienstmagd auf die Jagd? «
» Seit wann stellen Dienstmägde ungebührliche Fragen? «
Touché.
» Ich werde Richard wecken. Wir satteln die Pferde und bereiten alles vor. «
» So ist es gut, Emily. Sie lernen. Das gefällt mir. Ihr Bruder hat schon wieder meine Anweisungen nicht befolgt. Er schläft, obwohl er die Kamine heizen sollte. Sagen Sie ihm, er soll es nicht übertreiben. Meine Geduld hat Grenzen. « Er runzelt die Brauen, und unter seinem stechenden Blick verlässt Emily den Salon.
Über Wiese und Heide wallen Nebel. Die Luft ist geschwängert vom Salz des Meeres und vom Regen der letzten Nacht. Die Sonne quält sich über den Horizont und verheißt einen zumindest zeitweise hellen Tag.
Gald, Emily und Richard reiten nebeneinander, die Hunde gehorsam bei Gald’s Pferd.
Es riecht nach Moor und Erde. Unter anderen Umständen, denkt Emily, wäre dies ein wunderbarer Morgen mit der Aussicht auf eine abwechslungsreiche Jagd. Doch jetzt fragt sie sich, was Gald bezweckt. Er hat Richard mit einer Waffe ausgestattet, als stände ihres Bruders Drohung nicht im Raum. Fühlt der Mann sich unverwundbar? Was ist, wenn Richard seine Drohung wahrmacht? Emily beschließt, ihren Bruder nicht aus den Augen zu lassen.
Sie selbst hat sich mit Pfeil und Bogen bewaffnet, eine archaische Art der Jagd, die ihr Vater einst empfohlen hatte und für die sich sofort begeisterte. Nicht der Tod eines Tieres ist es, der sie zur Jagd treibt, sondern das Duell zwischen den Leben, wenn sie durch das Unterholz streift, den Bogen griffbereit, ein lauerndes Anschleichen, ein edler Kampf. Nicht selten verzichtete sie darauf, den Pfeil zu schießen, da sie befürchtete, einen schlimmen Tod zu bringen. Nur, wenn sie sicher ist, mit dem ersten Pfeil zu töten, beendet sie die Jagd auf diese Weise, denn ein sich in Schmerzen windendes Tier, von einem ungenau geschossenen Pfeil verletzt, würde sie nicht ertragen.
» Sie sind eine merkwürdige Frau « , sagt Gald. » Fast wie jemand aus einer anderen Zeit. Sie erinnern mich an eine Lady, die ich einst kannte. «
» Weil ich mit dem Bogen jage? « , fragt Emily. » Ich glaube, irgendwann wird man den Gebrauch des Bogens als Sport betrachten. Mit Schrot trifft jeder Hanswurst ein Scheunentor, doch mit dem Pfeil ist das eine andere Sache. «
» Ich frage mich, welche Talente Sie sonst noch haben? «
» Wenn ich Ihnen den Dreck hinterher räume, werden Sie die kaum erfahren. «
Er räuspert sich, und Richard knurrt ungehalten.
» Nebenbei gesagt « , Gald zügelt sein Pferd. » Ich schieße nicht mit Schrot. «
» Das sehe ich « , maßregelt Emily ihn, und er verzieht das Gesicht. Noch immer kann sie keinen Zorn, keine Aggression, keine Düsternis in seinem Gesicht lesen. Ja, er ist ein rauer Mann, er legt nicht viel Wert auf Konvention und ist bereit, sich zu verteidigen, aber nichts sonst von dem, was man über ihn sagt, trifft zu. Ein Unhold ist er nicht, befindet Emily und hofft, dass sie sich nicht täuscht. Vielmehr scheint er auch jetzt ein Spieler zu sein, jemand, der Menschen austestet, um zu sehen, ob er auf ein gutes Blatt setzt.
Richard scheint das anders zu sehen, denn sein langes Gesicht spricht Bände. Er wirkt, als wolle er jeden Moment auf Gald anlegen und schießen. Emilys Nerven sind zum Zerreißen gespannt, aber sie vermutet, dass Gald sehr genau auf Richard achtet. Wie sonst wäre sein immenses Selbstbewusstsein zu erklären, mit dem er ihrem Bruder die Waffe zugestand?
Sie reiten über das Hochmoor. Der Wind trägt den Odem der Ostsee zu ihnen. Die Kalklandschaft der Pennines zeichnet sich gegen den bedeckten Himmel ab. In der Nähe rauschte der Swale, der vom Regenwasser fast überläuft. Sie kommen über ein sanft abfallendes Plateau, das von einem schmalen Tal durchschnitten wird, in dem sich der Wald ausbreitet,
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