Mythica 07 - Goettin der Legenden
Ungeduldig scheuchte sie ihre Najaden-Dienerinnen weg, die sie singend begrüßten und nach ihren Wünschen fragten.
Anscheinend ist das wieder mal der Lauf der Dinge – nur die richtige Frau kann es schaffen, diese götterverdammten Schicksalsgöttinnen abzuwehren …
1
Isabel kam zu dem Schluss, dass der Morgen nicht besser hätte sein können. Na ja, vielleicht, wenn ihm eine leidenschaftliche Liebesnacht vorangegangen wäre, aber das war für sie momentan einfach nicht vorgesehen. Heute nicht und morgen wahrscheinlich auch nicht. Vermutlich das ganze nächste Jahrzehnt nicht. Trotzdem – heute war ein schöner Tag.
Sie justierte das Stativ, auf dem ihre Lieblingskamera befestigt war, und nahm einen tiefen Atemzug frischer Oklahoma-Luft. Sie spähte nicht durch die Linse, wie es die meisten Fotografen gemacht hätten. Natürlich würde sie sich irgendwann auch darum kümmern, aber sie vertraute ihrem Auge mehr als jedem Objektiv, ganz egal, wie toll es war. Jetzt studierte sie erst einmal gründlich die Landschaft und nippte dabei an ihrem Thermosbecher Kaffee.
In der Silberbeschichtung des Bechers erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild. So verzerrt es auch war, sie sah, dass sie lächelte. Und ihre Lippen, über die anscheinend jeder Liebhaber einen Kommentar abgeben musste, sahen aus wie breite Clownslippen. Männer schienen so etwas zu lieben, aber Isabel versuchte immer, sie einzuziehen. Sie glaubte auch keine Sekunde daran, dass die von Angelina echt waren. Leider wusste sie nur zu gut, dass ihre es waren.
»Als die rosenfingrige Eos, Göttin der Morgenröte, erschien«, murmelte sie und überraschte sich selbst mit dem Homer-Zitat. »Irgendwie angemessen …« Isabel seufzte zufrieden. Das Licht war wirklich hervorragend. Die Tallgrass Prairie von Oklahoma war genau die richtige Wahl gewesen, um ihren neuen Fotoband
American Heartscapes
zu beginnen. Es wurde gerade Frühling, aber die Hügelkette vor ihr war bereits kniehoch mit Gras bewachsen, das in der Morgenbrise wogte wie ein Ozean. Die Luft duftete nach Regen, aber Isabel erschnupperte noch viel mehr: Gras, den See, gelegentlich einen Skunk. Die Natur eben. Großartig.
Der Himmel war eine Explosion von Pastellfarben vor einem Hintergrund aus Kumuluswolken, die sich hoch aufbauschten – stumme Indizien für die Wettervorhersage, die für die Mittagszeit Gewitter in Aussicht gestellt hatte. Aber Isabel verschwendete kaum einen Gedanken an das bevorstehende Gewitter – sie würde längst verschwunden sein, wenn die ersten Tropfen fielen. Und sollte das Wetter sie vertreiben, machte ihr das auch nichts aus. Auf den Hügeln vor ihr, unter dem duftigen Zuckerwattehimmel, sah sie etwas, von dem sie wusste, dass es das perfekte Coverfoto für ihren Bildband abgeben würde: Auf den Hängen graste eine große Bisonherde. Mit glänzenden Augen beobachtete Isabel die Tiere und gestaltete in Gedanken das Bild. Im wechselnden Morgenlicht sahen die riesigen Büffel aus wie aus einer anderen Zeit, vor allem, da in ihrer Nähe keine Telefonleitungen oder moderne Häuser zu sehen waren, nicht einmal Straßen. Nur die Tiere, das Land und der wundervolle Himmel.
Isabel trank noch einen Schluck Kaffee, dann stellte sie den Becher weg, begann, die Kamera einzurichten und die ersten Aufnahmen vorzubereiten. Bei der Arbeit erfüllte ein Gefühl tiefen Friedens sie, und ihre Haut kribbelte vor Glück.
»Und du hast gedacht, du könntest es nicht mehr«, sagte sie leise zu sich selbst und ließ ihre Stimme den leeren Raum erfüllen. »Na ja, nicht ganz«, murmelte sie, während sie durch das Teleobjektiv spähte und die Schärfe auf einen besonders großen Bison einstellte, den der rosige Himmel von hinten beleuchtete. »Nur der innere Frieden hat gefehlt.«
Eigentlich ironisch, dass ausgerechnet die Fotos, die die Zeitschrift
USA Today
»Peace?«, also Frieden, genannt hatte, ihr die Perspektive auf das Thema geraubt hatten.
»So etwas passiert leicht in Afghanistan.« Isabel drückte mehrmals auf den Auslöser.
Eigentlich hätte sie damals wissen müssen, dass der Auftrag schwierig werden würde – zumindest erschien ihr das im Rückblick so. Aber sie war übermütig geworden. Himmel, sie war seit zwanzig Jahren Fotojournalistin – eine erfolgreiche, preisgekrönte Fotojournalistin obendrein. Keine naive Mittzwanzigerin, sondern eine furchtlose Fünfunddreißigjährige. Was Teil ihres Problems war. Übermäßiges Vertrauen in ihr Talent hatte sie blind
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