Mythor - 068 - Traumland der Ambe
Zauber machte dies möglich.
Larma nahm sich meiner an und lebte vier Jahre lang mit mir auf Burg Tarlik. Ich war ein blasses, blutleeres Geschöpf und wurde ständig von zwei Alpträumen geplagt. Jenen, der vom Tode meiner Mutter handelte, und einem anderen, den ich Larma an meinem vierten Geburtstag erzählte. Diesen begingen wir mit einer kleinen Fronja-Feier. Wir huldigten der Ersten Frau von Vanga, indem wir nur karge Fastenspeisen zu uns nahmen und keine Lichter entzündeten. Und in dieser seltsamen Stimmung verspürte ich den unstillbaren Drang, Larma die Wahrheit über sie selbst zu sagen.
Ich war gerade vier, aber für wenige Atemzüge fühlte ich wie eine reife Frau, und wie eine solche sprach ich auch.
»Larma, du warst es, die mit böser Zunge die Gerüchte über Hirele verbreitet hat. Du hast ihren Namen in den Schmutz gezerrt, als du über ausschweifende Feste auf Burg Tarlik getuschelt hast und meine Mutter die ,Blutige Burgherrin’ nanntest. Sie wird dir sicher verziehen haben, und ich tue es auch. Du hast Reue gezeigt, aber ist das genug für dich, um Seelenfrieden finden zu können?«
Larma kniete daraufhin weinend vor mir nieder und küßte mir Hände und Füße. Sie sagte kein Wort und blieb auch in der Folge in meiner Gegenwart stumm.
Am nächsten Tag bestieg sie mit mir eine Fähre und brachte mich nach Ascilaia, der Hexenschule im Krater des erloschenen Vulkans. Dort übergab sie mich der Obhut Pryscas und verschwand.
Sie ward nie wieder gesehen.
Und ich träumte nicht einmal von ihr.
*
Ich habe Prysca als ernste, bescheidene und gütige Frau in Erinnerung, und obwohl sie nicht viel Weibliches an sich hatte, war sie auf ihre Weise schön. Ich erinnere mich gerne an die Spaziergänge mit ihr, bei denen sie nicht müde wurde, mir von den Wundern der Welt zu erzählen, von den ungeahnten Möglichkeiten, die die Weiße Magie bot und dem schier unerschöpflichen Vorrat an menschlicher Eingebung. Sie vermied Ausdrücke wie »Verstand«, »Können« oder »Fertigkeit«, denn sie verallgemeinerten ihrer Meinung nach und trafen nicht das Wesentliche, statt »Geisteskraft« sagte sie Phantasie.
»Der menschliche Geist ist unerforschlich, die Phantasie grenzenlos, vielleicht sogar die Allmacht«, sagte sie zu mir, die ich noch ein kleines Mädchen war. Aber ich verstand sie. Und ich glaube auch begriffen zu haben, was sie meinte, als sie sagte, daß das Leben vielleicht nur ein Traum war. Vielleicht erwachten wir irgendwann einmal daraus, um uns dann im wahren Leben wiederzufinden.
Das Leben ein Traum – meines bestand zumindest aus Träumen. Aber unter Pryscas Obhut verschwanden wenigstens allmählich meine Alpträume, ich sah den Tod meiner Mutter Hirele nicht mehr als mystisches Ereignis, sondern als wirkliches Geschehnis. Meine Schwermut legte sich dadurch freilich nicht, sie verlagerte sich nur etwas von meiner Innenwelt in mein Äußeres. Ich blieb ein zartes, durchsichtiges Geschöpf – Fronjas Traum in einer unansehnlichen Hülle. Dadurch hatte ich es schwer, Anschluß an andere zu finden, und ich hatte nie eine wirkliche Freundin, solange ich in der Hexenschule von Ascilaia war. Ich meine, keine gleichaltrige Freundin, Prysca war mir viel mehr als eine solche. Sie war mir Mutter und Beichtschwester, Traumdeuterin und Hexenmeisterin, gute Fee und Erzieherin zugleich – und Bindeglied zu Fronja.
Prysca behandelte mich nie wie ein Kind, wie jung ich auch war. Damit will ich sagen, daß sie mich nicht verhätschelte wie andere. Mir gegenüber nannte sie die Sterne nie »Funkelsteine des Lichtboten«, sie sah keine Notwendigkeit, mir einzureden, daß der Lichtbote sie ausgestreut hatte, um eines Tages den Weg nach Vanga zurückzufinden. Ja, sie verriet mir sogar, daß Vanga nicht die ganze Welt war, sondern daß es hinter der Schattenzone – im Sprachgebrauch der Klein-Hexenschülerinnen »Vorhang des Bösen« genannt – noch eine andere Welt gab, die nur in zwei Teile gespalten worden war, als zwischen der Hexe Vanga und dem Krieger Gorgan ein Streit entbrannte. Prysca nannte die Wirklichkeiten bei ihren wirklichen Namen, denn sie sah keine Notwendigkeit, meine Phantasie zu beflügeln. Aber als sie mir zum erstenmal verriet, daß es neben den wirklichen Namen auch noch die wahren gab, mit denen man jedes Ding und Wesen bezeichnen und somit in den Griff bekommen konnte, da war ich denn doch etwas verwirrt.
Doch damit begann gleichzeitig meine Unterweisung in Weißer Magie. Ich lernte
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