Mythor - 068 - Traumland der Ambe
Bildnis zum erstenmal gesehen hatte, galt ihr sein Streben, sie war seine innere Triebfeder gewesen. Aber schloß das so selbstverständlich eine menschliche Bindung mit ein?
Das Bildnis, das er von Fronja in sich trug, war schon viele Jahre alt. Vangard hatte es vor langer Zeit aus der Frauenwelt nach Gorgan gebracht – Mythor selbst war damals erst ein Knabe gewesen. Vielleicht war Fronja heute schon eine uralte Frau.
Er verjagte diese Gedanken, sie führten zu nichts. Aber er verstand einfach nicht, wieso Isgrin zwischen ihm und Fronja stehen sollte. Er war kein unberührbares Denkmal.
*
Sie fanden eine Gärtnerin, die ihnen den Weg zeigte. Aber sie blieb kühl und war auf Abstand bedacht, so als handle es sich bei ihnen um ungebetene Gäste.
»Wir müssen mit Ambe sprechen«, erklärte ihr Gerrek, der das Wort ergriff, weil Mythor und Scida mit sich selbst beschäftigt waren.
»Das geht nicht«, sagte die jugendliche Gärtnerin.
»Aber es ist dringend«, beharrte Gerrek. »Es geht um Fronjas Sicherheit, um Leben und Tod – um den Fortbestand der Welt!«
Die Gärtnerin blieb unbeeindruckt.
»Ambe ist nicht ansprechbar«, sagte sie. »Ihr müßt mit ihrer Puppe vorlieb nehmen. Wenn euch das nicht genügt, dann kann euch niemand helfen. Hier sind wir.«
Die Gärtnerin wies auf ein laubenartiges Gehölz und zog sich zurück.
»Das ist das Mausoleum, von dem wir gesprochen haben«, erklärte Lankohr. »Seltsam, daß die Gärtnerin in diesem Zusammenhang von Ambes Puppe gesprochen hat. Ich habe keine Ahnung, was sie damit gemeint haben könnte.«
Mythor setzte sich langsam in Bewegung und merkte gar nicht, daß ihm die Freunde folgten. Er nahm nur wie nebenbei wahr, daß die Laube vor ihm wie ein kleines Lustschlößchen aussah. Es war weder gemauert, noch gezimmert, sondern aus Pflanzen gewachsen. Schlinggewächse bildeten sechs Säulen und vereinten sich zu einem Kuppeldach. Darunter stand ein korbartig gewachsener Dornenbusch, der auf einer Seite offen war.
Mythor trat zu diesem Eingang. Als sich seine Augen an das herrschende Zwielicht gewöhnt hatten, erkannte er darin einen menschlichen Körper, der mit angewinkelten Beinen dahockte. Die Dornenhecke umrankte den Körper, durchdrang ihn an verschiedenen Stellen und hielt ihn vermutlich aufrecht. Blüten sprossen aus den leeren Augenhöhlen, schimmerten durch die Öffnung, wo der Mund hätte sein sollen, kleine Knöspchen öffneten sich auf den Wölbungen der Brüste.
Das war keine Mumie, kein einbalsamierter Leichnam, sondern die leere Hülle eines weiblichen Wesens.
Mythor ging näher, und da war ihm, als sähe er durch die leeren Augenhöhlen einen Nebel, der sich zusammenballte, Farben und Formen bekam und sich zu einem Bild festigte. Gleichzeitig glaubte er, eine ferne, aber immer deutlicher werdende Stimme in seinem Geist zu vernehmen. Und diese erzählte ihm eine Geschichte. Ambes Lebensgeschichte.
2.
PUPPE 1 erzählt:
Ich habe das Bild meiner Mutter genau vor mir, obwohl sie schon bald nach meiner Geburt verstarb. Sie tauchte immer wieder in meinen Träumen auf, mal glücklich lächelnd, wenn sie sich über das bevorstehende Ereignis freute, dann wieder von Qual und Schmerz gezeichnet. Diese Träume – und andere, viel unverständlichere – verfolgten mich schon von klein an, und es dauerte lange, bevor ich sie ordnen und in der richtigen Reihenfolge aneinanderstellen konnte. So bekam ich ein deutliches Bild von meiner Mutter und ihrem Freuden- und Leidensweg.
Sie hieß Hirele und war Herrin auf Burg Tarlik, deren Mauern sich von den Klippen der Nordküste der Insel Naudron erheben, mit Blick auf das Dämmerland und die Schattenzone. An klaren Tagen konnte man vom Wachtturm aus den dunklen Streifen am Horizont deutlich erkennen, und wenn man nur ausdauernd genug in diese finstere Wand starrte, dann vermeinte man, die Macht der Dämonen zu spüren, die dort hausen.
Meine Mutter stand oft auf der Plattform des höchsten Turmes ihrer Burg und sah ins Land hinaus. Aber ihr Rücken war dem Norden zugewandt, ihr Blick in den Süden gerichtet, zum Hexenstern. Sie konnte ihn nie erblicken, denn zu weit war der Mittelpunkt der Welt entfernt, und die Berge von Naudron verstellten ihr die Sicht.
Hirele hatte eine Sehnsucht, die sie schon oft zu stillen versuchte, ohne daß ihr dies jedoch gelang. Sie wollte ein Kind, eine Tochter haben, aber keiner der Männer, die sie fangen und bei Nacht und Nebel in ihr Gemach bringen ließ, konnte ihr
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