Nach Hause schwimmen
versuchte, auf dem Cello zu spielen, gelang es ihm nicht, die Töne waren falsch. Er hatte in Göteborg nicht gewonnen, das Stipendium erhielt der Junge aus Waterford. Die Entscheidung war knapp gewesen, und an der Feier waren Wilbur von verschiedenen Seiten Stipendien und Plätze an Musikschulen angeboten worden. Ein französischer Fernsehsender plante eine Dokumentation über junge Musiker und wollte nach Irland kommen, um ein Porträt von Wilbur zu drehen, aber er hatte abgelehnt. An jenem Abend in Göteborg wusste er nicht, wo er in einer Woche, einem Monat sein würde. Da wurde er noch von der Hoffnung getrieben, seinen Vater zu finden, und alles andere, auch seine Freundschaft mit Colm und Matthew, musste dahinter zurücktreten. Jetzt war er wieder da, der kurzzeitig abhanden gekommene Ziehsohn, der Schüler, der Gefährte auf dem letzten Weg, der Gescheiterte. Er hatte das Gefühl, etwas erklären, wiedergutmachen zu müssen, wusste aber nicht, wie. Im Exil seines Zimmers hatte er wirre Briefe an Matthew geschrieben, Seiten voller Entschuldigungen und hilfloser Rechtfertigungen, die er nie abschickte.
Am Tag nach Colms Beerdigung, als er Matthew Fitzgerald zum ersten Mal seit seiner Reise nach Schweden wiedersah, saßen sie in Matthews Wohnzimmer und tranken Tee. Wilbur, der sich seinem Freund und Lehrer gegenüber als Verräter fühlte, erzählte stockend von seinen Beweggründen, während die Katze ihn argwöhnisch beobachtete. Matthew hörte ruhig zu und zeigte dann weder Missbilligung noch Enttäuschung oder gar Zorn. Er hatte mit vierundzwanzig Jahren Mutter und Vater verloren und verstand sehr gut, warum Wilbur der Spur aus den Briefen gefolgt war. Er fühlte sich nicht ausgenutzt oder getäuscht, weil er Wilbur das Cellospiel beigebracht hatte. Wilbur hatte das Instrument lange vor der Entdeckung der Briefe beherrscht, seine Liebe zur Musik konnte unmöglich vorgetäuscht, keinesfalls Teil eines Plans gewesen sein. Nach Wilburs Beichte benutzte Matthew sogar Begriffe wie Schicksal und Bestimmung, und Wilbur nickte verlegen dazu, wohl wissend, dass der während seines dreitägigen Verschwindens vor Kummer gealterte Mann keine Erklärungen suchte, sondern Trost. Vielleicht, meinte Matthew, habe Wilburs außergewöhnliche Begabung ihren Zweck erfüllt, indem sie ihm zu einem Flug nach Schweden verholfenhatte. Vielleicht sei die kurze Zeit, in der Wilbur vom Anfänger zum Virtuosen katapultierte, nur die Vorbereitungsphase für diese Suche gewesen. Vielleicht habe Wilburs unermessliches Talent einzig dazu gedient, der Erfüllung einer Vorsehung den Weg zu bereiten, um dann möglicherweise vergessen zu werden, zu verkümmern, in der Stille zu versinken, aus der sie geweckt worden war.
Wilbur wusste die Antwort nicht, und Matthew rang ihm keine Versprechen, keine Vermutungen ab. Er sah, wie der Junge sich unter der Bürde der Ereignisse krümmte, wie er die fehlgeschlagene Fahndung nach dem Vater und Colms Tod zu verkraften versuchte, und ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er ihm nicht helfen konnte.
Die Tage flossen zäh dahin, und dann passierte alles so plötzlich, dass Wilbur sich an keine Einzelheiten erinnerte. Eine Woche war seit Colms Tod vergangen, und noch immer sprach er weder mit Pauline noch mit Henry. Pauline glaubte es mit einer Phase zu tun zu haben, deren Ende absehbar war. Sie kannte sich mit verstockten, rebellischen Teenagern aus, Gott war ihr Zeuge. Sie kochte noch mehr als früher, bestand aber nicht mehr darauf, dass Wilbur seinen Teller leerte, sie kaufte ihm Kassetten mit klassischer Musik, und manchmal, nachmittags, wenn Henry nicht da war, legte sie sich auf ihr Bett und weinte.
Mitten in der Woche ging sie zur Kirche, aber nicht einmal dort konnte sie sich zu der Frage überwinden, was sie möglicherweise falsch gemacht hatte. Sie zündete Kerzen an, eine für Wilburs Seelenheil, zwei für das eigene. Sollte sie etwa beichten, dass sie einen sechzehnjährigen Jungen gemaßregelt hatte, einen Heimlichtuer, Ausreißer und Lügner? Der Pfarrer würde sie auslachen. Wilbur hatte die Strafe verdient. »Züchtige mich, Herr, doch mit Maßen und nicht in Deinem Grimm, auf dass Du mich nicht aufreibest.« Jeremia, Kapitel 10, Vers 24. Sie hatte Wilbur mit Maßen gezüchtigt, und sie hatte es aus Pflicht ihm gegenüber getan, zu seinem Wohl und nicht im Zorn. Die Zeit allein in seinem Zimmer sollte dem Jungen die Möglichkeit geben, nachzudenken und mit sich und seiner Geschichte,
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