Nach Hause schwimmen
wackliger Schrift: MATT LIEBT SALLY , darüber schweben Herzen, tintenblau und ungelenk, wie verbeult.
Ich bin gerne hier drin. Es ist ein trauriger Ort voller unbedeutender Geschichten, ein Museum der Abschiede und Trennungen und Tragödien. Den Dingen haftet ein Geruch nach Staub und vergeblicher Mühe an, nach schnellem Geld und langsamem Untergang.
»Sieh’s dir mal an«, sagt Winston.
Ich gehe zu ihm, und er zeigt mir eine Kette mit einem runden Anhänger, dessen eine Seite die Sonne, dessen andere den Mond darstellt.
»Silber«, sagt Winston. »Hundert Jahre alt.« Er legt den Anhänger in meine Hand. Winstons Kopf ist klein wie der eines Kindes, das schüttere weiße Haar riecht nach der Pomade, die es in Bahnen unterteilt und an den Schädel klebt. Braune Flecken und rosa Sprenkel bedecken das Schwarz seiner Haut, weiße Stoppeln lassen Wangen und Kinn grau aussehen. Er trägt einen schwarzen Nadelstreifenanzug samt Weste,ein weißes Hemd und eine bordeauxrote Krawatte mit blauen Streifen. Vor vielen Jahren hatte Winston ein Pfandleihhaus in Queens, aber weil er irgendwann das Elend der Leute nicht mehr ertrug, die ihre letzte Habe zu ihm schleppten, eröffnete er diesen Laden. Auf dem Schild draußen steht noch immer FREEMAN ANTIQUES , aber das bisschen Geld, das er zum Leben braucht, macht er schon lange nicht mehr mit dem Verkauf von edlen Kristallkaraffen, sondern mit dem Verscherbeln von gebrauchten Toastern und Stereoanlagen. Eigentlich hat er nur die Geschäftsräume und den Stadtteil gewechselt und eine trostlose Kundschaft gegen eine andere ausgetauscht. Ab und zu kommen Sammler vorbei und werden im vorderen Teil des Ladens fündig, und im Sommer und Herbst kann es passieren, dass sich ein paar Touristen in die Gegend verirren. Aber der größte Teil seiner Klientel besteht aus Menschen, die eine Matratze oder Thermoskanne brauchen oder die Hochzeitsbrosche ihrer Mutter verkaufen wollen. Winstons Laden ist die Welt, vorne die Erste, versunken in der Apathie des Vergehens, hinten die Zweite, auf der Schwelle zur Dritten, erbärmlich mit ihrer abgenutzten Fülle und der Patina des Scheiterns.
»Zwanzig Mäuse«, sagt Winston. »Weil du’s bist.«
»Ich habe keine zwanzig Dollar«, sage ich. »Nicht dafür.«
»Ein Mann hat sie gebracht, vor Jahren. Er hat gesagt, er hat die Kette einem Mädchen geschenkt, und sie hat ihn nie mehr verlassen.«
»Und er hat sie dir verkauft?«
»Die Frau ist gestorben. Nach sechzig Jahren Ehe. Und er brauchte Geld.« Winston betrachtet die Sonne, dann den Mond. In seiner hellen, honiggelben Handfläche sieht der Anhänger noch schöner aus als im blauen Samt der Schatulle, wirkt irgendwie älter, kostbarer.
»Tut mir leid«, sage ich. »Wenn ich was brauche, dann gute Schuhe.«
»Kannst es dir ja noch überlegen.«
»Ja. Danke.« Ich gehe zum Ausgang. »Bis bald.«
»Richtig.«
Ich trete auf die Straße. Die alte Karre steht noch immer mit offener Motorhaube da. Es regnet kleine graue Tropfen. Die drei Jungs rauchen, der Qualm wabert durch Fensterschlitze. In meinem Rücken klingelt die Glocke. Ich stoße die Tür noch einmal auf und rufe in den Laden: »Esregnet!«, und Winston strahlt.
Am Nachmittag sitze ich mit Aimee in der U-Bahn. Wir fahren in die Bronx, wo sie sich mit drei Leuten eine Wohnung teilt. Ich habe alle Arbeiten erledigt, bis auf das Ausmisten der Besenkammer. Randolph hat mir den Nachmittag freigegeben, und den nächsten Morgen. Ich habe gesagt, das sei nicht nötig, aber er meinte, man könne nie wissen. Während wir unter der Stadt dahinschaukeln, überlege ich, ob ich Aimees Hand halten soll. Sie erzählt mir von ihren Mitbewohnern, und ich denke an nichts anderes als daran, nach ihrer Hand zu greifen. Ich frage mich, ob ich das darf, ob sie es erlauben würde, es vielleicht sogar erwartet, erhofft. Bin ich ihr Freund, ihr offizieller? Oder nur ein Typ, mit dem sie gerade zusammen ist? Sind wir überhaupt zusammen? Oder haben wir bloß eine Nacht miteinander verbracht? Kann ich sie das alles fragen?
»... schon mal in der Bronx?« Aimee sieht mich an. Hinter ihr wischen Tunnelwände vorbei, freiliegende Kabel, Lichter. Sie lächelt. »Wo bist du denn gerade?«
Wärst du auch ohne den Koffer zu mir gekommen? Wenn ich deine Hand berühren würde, würdest du sie zurückziehen? Liebst du mich? Stattdessen sage ich: »Bronx.«
»Bronx, genau«, sagt Aimee und lacht. »Und? Schon mal da gewesen?«
»Nein.« Ich erzähle ihr
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