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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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nichts von den Streifzügen durch die Bronx, nichts von meiner unendlichen Suche.
    Plötzlich hält die Bahn an, sanft und mit einem leisen Heulen wie von einem mechanischen Kojoten, lang und klagend. Dann flackert die Innenbeleuchtung und geht aus. Ein Kind ruft erschrocken, Passagiere stöhnen auf, eher verärgert als besorgt. Es ist dunkel, ein paar Ohren glimmen auf, von Handys erleuchtet. Geschäftspartner, Ehefrauen und Freundinnen werden verständigt.
    Ich taste nach Aimees Hand, und unsere Finger greifen ineinander.

Last Man Standing
1996
    Wilburs Reise in die Geschichte seiner Eltern wurde mit Hausarrest auf unbestimmte Zeit bestraft. Artikel über seine Teilnahme am Musikwettbewerb und sein Verschwinden schafften es bis in die irischen Zeitungen, und Pauline schien der Welt beweisen zu wollen, dass sie und Henry ihre Rolle als Erziehungsberechtigte ernst nahmen und durchaus in der Lage waren, dem Jungen seine Grenzen aufzuzeigen. Um sicherzustellen, dass er die Stunden zwischen Schulschluss und Zubettgehen nicht sinnlos vertrödelte, trug sie Wilbur die Abschrift eines zweihundert Seiten dicken Buches mit dem Titel Bibelzitate für den Hausgebrauch auf. Er durfte Colm nicht mehr im Altersheim besuchen, und obwohl sie sich des therapeutischen Wertes der Cellolektionen bewusst war, verbot sie ihm auch den Kontakt zu Matthew.
    Nach zwei Wochen plädierte Henry für eine Lockerung der Haftbedingungen, aber seine Frau wollte nichts davon hören. Sie rechtfertigte ihre Unnachgiebigkeit mit der Behauptung, während Wilburs Unauffindbarkeit Todesängste ausgestanden zu haben. Damit meinte sie, dass sie in jenen Tagen der Ungewissheit sowohl um das Leben ihres Ziehsohnes gefürchtet hatte als auch um das eigene, das, so behauptete sie, bei jedem Klingeln des Telefons mit dem Aussetzen ihres vor Sorge geschwächten Herzens hätte enden können. Pauline brachte Wilbur jeden Morgen zur Schulbushaltestelle und holte ihn von dort wieder ab, sie wollte täglich drei Seiten Abschrift sehen, und als ein Brief aus Nora kam, in dem Sune Nordahl sich nach Wilburs Befinden erkundigte,las sie ihn beim Abendessen vor, verkündete jedoch, rosig glühend vor Selbstgefälligkeit und fürsorglicher Strenge, ihn bis zur Beendigung des Arrests zu behalten.
    Wilbur ertrug die Bestrafung ohne Klage. Nach dem Scheitern seiner Suche betrachtete er das ganze Leben als Abfolge von Bestrafungen. Er ging zur Schule, wo er gedankenverloren Bestnoten schrieb und das Stigma des Wunderkindes gleichgültig ertrug. An den schulfreien Nachmittagen, den Abenden und Wochenenden saß er am Pult in seinem Zimmer und schrieb, nachdem er die Hausaufgaben erledigt hatte, Sätze wie: »So freu dich, Jüngling, in deiner Jugend, und lass dein Herz guter Dinge sein. Tue, was dein Herz gelüstet und deinen Augen gefällt, und wisse, dass dich Gott um dies alles wird vor Gericht führen« und: »Wer sein Leben liebt, der wird es verlieren, und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird es erhalten zum ewigen Leben.« Nachts lag er schlaflos da und fragte sich, ob er dazu verdammt sei, nie sterben zu dürfen, weil er sein Leben hasste. Orla hatte ihr Leben geliebt und war tot. Bestimmt hatte seine Mutter ihr Leben geliebt. Sie hatte sich auf ihn gefreut, das wusste er von Sune. Musste er lernen, sein Leben zu lieben, um es zu verlieren?
    Manchmal holte er das Foto aus dem Versteck und betrachtete es, bis es in seine Träume hinüberglitt. Wenn er nachts aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte, las er die beiden Briefe, die sein Vater aus New York an Sune geschrieben hatte. Er roch an den dünnen, knisternden Luftpostumschlägen, betrachtete die Briefmarken, bis sie vor seinen Augen verschwammen, strich mit den Fingerspitzen über das Papier und folgte jedem Bogen und jedem Schnörkel der Buchstaben. Er setzte sich im Mondlicht an den Tisch und imitierte die Schrift seines Vaters. Er folgte mit schwarzer Tinte den Sätzen, die dem fernen, dem einzigen Freund gegenüber Zuversicht vortäuschten und zwischen denen, in der fleckigen, zerknitterten Leere des Papiers, blanke Verzweiflung stand. Während er schrieb, wurde er für eine kurze, schlaftrunkene Zeit zu seinem Vater und glaubte, in der Nachahmung der Schlingen und Haken etwas von dessen Schmerz zu spüren, dem Schmerz über die verlorene Frau und darüber, aus den Bahnen des Lebens gefallen zu sein.
    »Ich weiß, du würdest mir viele Gründe nennen, weshalb es sich gegenden Untergang zu kämpfen

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