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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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aber, wo er war. In seinem Rücken ertönte ein Ächzen, und als Wilbur sich umdrehte, sah er ein weiteres Bett. Ein schlafender Mann lag darin, dessen hell schimmerndes Gipsbein, von Seilzügen gehalten, schräg zur Decke hin ragte. Wilbur hustete, und als derAnfall heftiger wurde, legte er sich hin und bedeckte das Gesicht mit dem Kissen.
    Irgendwann kam die Nachtschwester und sah nach den Patienten. Sie ließ die Tür zum Flur offen, von wo Licht hereinfiel. Wilbur war wach und fragte flüsternd, warum er hier sei. Die Schwester, eine alte Frau mit tiefer Stimme und kalten Händen, sagte etwas von Rauchvergiftung und gab Wilbur eine Tablette und lauwarmen Tee aus einer Schnabeltasse. Wilbur wollte wissen, ob das Haus der Conways noch stand, aber das wusste die Schwester nicht.
     
    Drei Tage später wurde Wilbur aus dem Krankenhaus entlassen und in einem vergleichsweise gemütlichen Nebengebäude einer Nervenklinik im County Galway einquartiert. Nach einer schlaflosen Nacht musste er die Fragen eines Psychologen beantworten, der ein Gutachten erstellte. Wilbur machte sich gar nicht erst die Mühe, den Eindruck eines normalen Jugendlichen zu vermitteln. Er wusste inzwischen, dass das Feuer lediglich sein ehemaliges Zimmer verwüstet und sonst keinen Schaden angerichtet hatte, sah man davon ab, dass Pauline Conways Ruf als untadelige Pflegemutter endgültig ruiniert war. In seinem Bericht beschrieb der Psychologe, ein ehrgeiziger Mann mit einem Hang zu grellbunten Krawatten und Einstecktüchern, Wilbur als seelisch instabilen, in höchstem Maße verunsicherten Jugendlichen, dessen durch den Verlust der Eltern traumatisierte Kindheit Potential für selbstzerstörerische Akte bot, wobei Sachbeschädigungen und Gewalt gegen Personen seines Umfeldes nicht auszuschließen seien, wie die Brandstiftung deutlich gezeigt habe. Die außergewöhnliche Intelligenz und musikalische Begabung des Jungen seien Ausdruck einer extremen Introvertiertheit mit einer Tendenz zum Manisch-Depressiven, zudem verhindere sein Außenseiterstatus in der Schule sowohl die Entwicklung eines gesunden Charakters als auch die in diesem Alter so wichtige soziale Integration. Er sprach sich für eine Verwahrung mit Arbeitseinsatz und therapeutischer Betreuung aus, wobei er ein Strafmaß von mindestens drei und höchstens sechs Monaten für gerechtfertigt hielt.
    Zu einem ähnlichen Schluss kam auch die Sozialarbeiterin, die mit Wilburs Fall betraut war. Nach einem Besuch bei Pauline, die ihrenZiehsohn als verschlossen und unberechenbar bezeichnete, unterstützte sie den Antrag des Psychologen, und Wilbur wurde in die Jugendbesserungsanstalt Four Towers in der Nähe von Sligo eingewiesen.
     
    Four Towers war bis zum Jahr 1963 eine Fabrik gewesen, in der Tweed- und Leinenstoffe hergestellt worden waren. Die meisten der Jungen, die dort einsaßen, waren kleine Lichter, was ihre kriminelle Vergangenheit betraf. Sie verbüßten Strafen für Ladendiebstahl und Sachbeschädigung, Fahren ohne Führerschein, Prügeleien und etwas, das auffälliges Sozialverhalten genannt wurde. Einige hatten ihre Väter, Lehrer und Chefs tätlich angegriffen, andere waren notorische Schulschwänzer und machten aus purer Langeweile ihre Wohngegend unsicher, fuhren auf Zugdächern und setzten Autos gegen Wände. Es gab Tierquäler und Steinewerfer, Maulhelden, Spanner, Randalierer, es gab Ausgestoßene, Missbrauchte, Täter und Opfer und angehende Verbrecher und Verlorene, und alle waren sie halbe Kinder, zu alt für Ohrfeigen und Nachsitzen und zu jung für richtige Gefängnisse.
    Als die Fabrik nach Jahren des Verfalls zu ihrer heutigen Funktion umgebaut worden war, hatten die Verantwortlichen weniger das Wohl der zukünftigen unfreiwilligen Bewohner im Auge gehabt als die Zweckdienlichkeit der Anlage und geringe Baukosten. Im dreistöckigen Hauptgebäude waren neben dem Büro des Direktors und den Unterkünften für die Wachmänner die Waschräume, die Küche, der Speisesaal und die Schlafsäle der Zöglinge untergebracht. Es gab weiß getünchte, bilderlose Wände, polierte Holz- und Steinfußböden, Reihen zentimetergenau ausgerichteter Tische und Bänke, hohe Räume mit Betten aus Eisenrohr und lange, düstere Flure, in denen auch an heißen Sommertagen gruftige Kühle herrschte.
    In zwei Nebenbauten befanden sich die Werkstätten, wo die jugendlichen Straftäter Weidenkörbe flochten, Leiterwagen bauten, Traktoren reparierten und sonstige Fronarbeiten verrichteten, um

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