Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
müde und nervös, und als Alice ihr Wilbur vorstellte, nickte sie ihm linkisch zu und sah ihm dabei kaum in die Augen.
    Drinnen setzten die drei sich an einen der hinteren Tische und bestellten Kaffee. Die lange Fahrt in der U-Bahn hatte Wilbur wachgerüttelt, aber jetzt, in der Wärme des Lokals, traf ihn die Müdigkeit wie eine Welle.
    »Wir möchten Ihnen noch einmal danken, dass Sie sich bei uns gemeldet haben«, sagte Alice. Sie trug das erste Modell aus ihrer eigenen Kollektion, einen graublauen Strickmantel aus biologischer Wolle, die farblich passende Mütze lag neben ihr auf der Bank. Die Eröffnung des Ladens, den sie zusammen mit Rebecca Shelby einrichtete und für den neben Ruth Cole noch vier weitere Frauen strickten, stand unmittelbar bevor und sorgte dafür, dass Alice seit Wochen an die Grenzen ihrerBelastbarkeit ging, literweise Kaffee trank und kaum schlief. Trotzdem wirkte sie an diesem Morgen hellwach und voller Energie, und nur Wilbur nahm den leicht überdrehten Ton ihrer Stimme und das Flackern in ihrem Blick wahr, der zwischen ihm und Nathalie Kerkowski hin und her sprang.
    Nathalie nickte. »Sie müssen mir nicht danken«, sagte sie, hob kurz den Kopf und sah dann wieder auf ihre Hände, die ein Papiertaschentuch zerknüllten.
    Die Kellnerin brachte den Kaffee und ein Kännchen Milch. Nathalie tat vier Löffel Zucker in ihre Tasse und rührte um. »Meine Mutter hat ihn vor etwa zwei Jahren kennengelernt«, sagte sie plötzlich und so leise, dass es in den Nebengeräuschen beinahe unterging. Sie räusperte sich und schloss die Faust um das weiße Taschentuch.
    »Woher wissen Sie, dass es Lennard Sandberg ist?« fragte Wilbur, nachdem er eine Weile gewartet hatte, ob die Frau noch mehr sagen würde.
    Nathalie zog den Reißverschluss der Windjacke herunter, holte einen Umschlag aus der Innentasche und schob ihn Wilbur zu. Wilbur hob ihn auf und entnahm ihm einen amerikanischen Pass. Er schlug das Dokument auf und sah das Foto seines Vaters, das Porträt eines jungen Mannes, dessen Lächeln Übermut ausdrückte und in dessen Augen man Glück erkennen konnte. Zum ersten Mal sah Wilbur seinen Vater nicht verlegen grinsend oder abwesend in die Kamera blicken, und er betrachtete das Bild so lange, bis er sich jede Einzelheit eingeprägt hatte, das lange, glattrasierte und ein wenig überbelichtete Gesicht mit der Grube im Kinn, die gescheitelten, von Pomade gebändigten Haare, das linke Ohr, das ein wenig nach außen geknickt schien, das Muttermal auf der rechten Wange, dessen Erwähnung auf den Suchplakaten er versäumt hatte. Dann blätterte er durch die Seiten und fand einen Stempel der amerikanischen und einen der schwedischen Einwanderungsbehörde. Das Ausstellungsdatum des Passes war der Oktober des Jahres, in dem Lennard Sandberg und Maureen McDermott geheiratet hatten. Das erklärte das Glück in den Augen von Wilburs Vater.
    »Wo ist er?« Wilbur legte den Pass auf den Tisch. Alice nahm ihn und sah sich das Foto an.
    »In der Wohnung meiner Mutter«, sagte Nathalie. »Nicht weit von hier.« Sie machte eine vage Bewegung zur Straße hin.
    »Weiß er, dass wir nach ihm gesucht haben?« fragte Alice.
    Nathalie schüttelte den Kopf. Sie hielt die Tasse mit beiden Händen fest und blies hinein, bevor sie trank.
    »Warum haben Sie sich nicht schon früher gemeldet?«
    »Ich habe den Handzettel erst vor ein paar Tagen gelesen.« Sie stellte die Tasse ab und schob den Pass, den Alice ihr hingelegt hatte, zurück in die Tischmitte. »Nehmen Sie ihn.«
    Alice sah Wilbur an, der den Pass schließlich einsteckte.
    »Können wir zu ihm? Jetzt?« fragte Wilbur. Er schob seinen Stuhl zurück und zog den Reißverschluss der Daunenjacke hoch.
    Nathalie nickte und erhob sich. Alice legte Geld auf den Tisch, dann verließen sie das Lokal.
     
    Verna Kerkowski wohnte im elften Stock eines Mietshauses aus den vierziger Jahren. Die Fassade des Gebäudes hatte ihren ehemals prunkvollen Charakter nur deshalb eingebüßt, weil sie überzogen war vom rußigen Schmutz der Jahrzehnte, einer grauen, ätzenden Schicht, die sich in den Sandstein der Fenstersimse, Zierleisten und stilisierten Blumen über der Eingangstür fraß und helle, bröckelnde Flecken entblößte. Wie ein starrköpfiges Symbol gegen den äußeren Verfall des Gebäudes ragte in seiner Mitte, aus einer dunklen Blüte im achten Stockwerk, eine weiße Fahnenstange, an der eine neue amerikanische Flagge hing, unbewegt in der eisigen Windstille und

Weitere Kostenlose Bücher