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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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einer Kerbe, die nach etwa fünf Millimetern in einem glatten, rillenlosen Nichts endete. Seine Handfläche, das wurde ihm zum ersten Mal bewusst, war leer, eine Ebene ohne Straßen. Er fragte sich, warum ihm das bisher nicht aufgefallen war und ob Orla es je bemerkt hatte, und falls ja, ob sie diese furchenlose Nacktheit seiner allgemeinen Unterentwicklung zugeschrieben hatte.
    Norman und Carrie waren aufgestanden und hatten sich hinter ihre Großmutter gestellt, um das Naturereignis in Wilburs Hand zu bestaunen.
    »Eine Schicksalslinie kann ich überhaupt nicht erkennen«, sagte Fedora. »Nicht eine Spur davon.« Sie schüttelte den Kopf. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Nie.«
    Wilbur fühlte sich an den Moment in dem stickigen Wohnwagen in Kindrum erinnert, als die Zigeunerin ihm das Geld zurückgegeben und ihn weggeschickt hatte.
    »Aber hier«, sagte Fedora und tippte mit dem Fingernagel in die Mittevon Wilburs Handfläche, »taucht die Lebenslinie wieder auf.« Fedora zog Wilburs Hand nah ans Gesicht. »Und teilt sich in zwei Richtungen.«
    »Was bedeutet das, zwei Richtungen?« fragte Dexter. Kuchenkrümel klebten in seinen Mundwinkeln.
    Fedora lächelte Wilbur an. »Dass Wilbur zwei verschiedene Wege gehen kann«, sagte sie. Dann bettete sie seine Hand zurück auf den Tisch, wo sie liegen blieb, ein offenes Buch ohne Text, eine Landkarte ohne Straßen.
     
    Als Wilbur weit nach Mitternacht ins Freie trat, regnete es wieder. Fedora hatte ihm einen Schirm gegeben, den er jetzt aufspannte. Sie hatte gesagt, er könne das hässliche Ding mit dem Aufdruck einer Motorenölmarke jederzeit zurückbringen. Wilbur merkte sich die Adresse und machte sich auf die Suche nach einem Taxi. Während der Heimfahrt betrachtete er im flackernden Schein der über die Fensterscheiben gleitenden Lichter seine Handflächen. Die Lücke zwischen dem Stummel und der Fortsetzung seiner Lebenslinie maß etwa fünf Zentimeter, und Wilbur rätselte, ob er diese Leere bereits hinter oder noch vor sich hatte. Er hielt es auch für möglich, dass Fedora sich irrte, dass es keine zwei Wege für ihn geben würde und das abrupte Ende der Linie seinen baldigen Tod bedeutete. Dann verwarf er diesen Gedanken und zog die Seriosität der gesamten Veranstaltung in Zweifel, rief sich die gemütliche, letztendlich aber absurde Szenerie in der fremden Küche in Erinnerung und wunderte sich nachträglich über seine Gutgläubigkeit und Naivität.
    »Glauben Sie, dass der Lebensweg, das Schicksal eines Menschen in seiner Handfläche eingraviert ist?« fragte er den Taxifahrer, einen vielleicht sechzigjährigen, fast kahlköpfigen Mann, der laut dem am Armaturenbrett angebrachten Ausweis Fernando Ramirez hieß.
    »Was?« fragte der Fahrer und drehte dabei den Kopf nach hinten, was bedeutete, dass nur noch Wilbur, der seine Frage augenblicklich bereute, auf die Straße sah. Der Gedanke, in dieser Sekunde das Niemandsland am Ende seiner Lebenslinie zu erreichen, schoss Wilbur durch den Kopf, aber dann widmete sich der Fahrer wieder dem Verkehr, der auf der Flatbush Avenue dichter geworden war.
    Sie hielten an einer roten Ampel, und Wilbur beugte sich nach vorneund zeigte dem Fahrer seine Handfläche. »Die Linien auf unserer Hand, glauben Sie, man kann darin die Zukunft lesen?«
    »Oh, die Zukunft!« rief der Mann und hob beide Hände, als wolle er sich ergeben, »die Zukunft, nur Gott kann sie ...«, er suchte nach einem Wort, »machen!« Er nahm das Metallkreuz, das, zusammen mit einem Rosenkranz und einem Stoffwimpel der New York Yankees , am Rückspiegel hing, zwischen die Finger und hielt es so, dass Wilbur es sehen konnte. »Alles andere, es tut mir leid, ist Humbug, Hokuspokus!« Die Ampel sprang auf Grün, und er fuhr los. »Meine Meinung«, fügte er halb entschuldigend und halb trotzig hinzu.
    Wilbur lehnte sich zurück und schloss die Augen. Vielleicht, so dachte er, befand er sich längst im flachen Abgrund zwischen seinen Lebensstraßen, und es spielte keine Rolle, ob er ein Ziel verfolgte oder das Steuer einfach losließ.
     
    An dem Abend, an dem die Frau anrief, die Lennard Sandbergs Aufenthaltsort zu kennen vorgab, war Wilbur nicht zu Hause. Er saß in einer Spielhalle und fütterte Automaten mit Geld, um Raumschiffe in Feuerbälle und feindliche Planeten in unbewohnte Trabanten zu verwandeln. Zuvor hatte er in einer Bar, wo auf einer Großleinwand eine MTV-Verkupplungsshow lief, gerade so viel Wodka getrunken, dass er nicht daran

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