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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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wurde lauter, erwachte zu empört nuschelndem Leben. Je leiser und eindringlicher Nathalie sprach, umso dröhnender wurde ihre Mutter. Plötzlich ging die Tür auf und eine Frau stürmte aus dem Zimmer, in das durch zwei große Fenster trübes Winterlicht fiel.
    Verna Kerkowski war vierundfünfzig Jahre alt und so groß wie ihre Tochter, aber sie hatte einen fülligeren Körper und dauergewelltes blondes Haar. Sie trug enge schwarze Hosen und über einem hellblauen Pulli eine Jacke aus türkisfarbenem Stoff, alles zerknittert, als habe sie darin geschlafen.
    »Was wollen Sie hier?« rief sie. »Das ist meine Wohnung!«
    Nathalie kam aus dem Zimmer und fasste ihre Mutter am Arm. »Mutter,bitte, ich hab dir doch gesagt, wer das ist.« Sie versuchte erfolglos, Verna zurück in das Zimmer zu schieben.
    »Ich will, dass Sie gehen!« Verna hob eine ringlose Hand und wies zur Tür. Sie war barfuß, ihre Zehennägel waren rot lackiert.
    »Der Junge ist Wilbur Sandberg«, sagte Nathalie laut und griff nach der Hand ihrer Mutter, »Lennys Sohn.«
    Wilbur wusste nicht, wie er sich dieser Frau gegenüber verhalten sollte. Soviel er mitbekommen hatte, war sie die Freundin seines Vaters und schien sich in den letzten zwei Jahren um ihn gekümmert zu haben, was immer das heißen mochte. Jedenfalls hielt er es für ratsam, ihr nicht zu nahe zu kommen, auch wenn ihre Tochter sie mit sanfter Gewalt festhielt.
    »Lennard hat keinen Sohn«, sagte Verna bestimmt. »Und jetzt verlassen Sie meine Wohnung!«
    »Wo ist er?« fragte Wilbur.
    Nathalie deutete mit dem Kopf in den hinteren Teil der Wohnung.
    »Er will niemanden sehen!« rief Verna und packte Wilbur am Arm. »Er schläft! Gehen Sie endlich!«
    Wilbur machte sich los und ging mit Alice am Wohnzimmer und einem Badezimmer vorbei zu einer verschlossenen Tür.
    »Geh hinein«, sagte Alice leise, »ich warte hier.«
    Wilbur drehte den Türknauf, betrat das Halbdunkel des Raumes und schloss die Tür hinter sich. Verna fing erneut an zu keifen, dann klang es, als würde sie in ein anderes Zimmer gebracht. Als sich seine Augen an das diffuse Licht, das kaum durch die dicken Vorhänge drang, gewöhnt hatten, sah Wilbur eine Tür, an der ein Bademantel hing, einen Sessel, einen offenen Schrank, aus dem das Weiß eines Hemdes leuchtete, eine Kommode mit offenen Schubladen und ein Bett, in dem ein Mann lag. Wilbur atmete flach, roch kalten Zigarettenrauch und, ganz schwach, Schweiß und Urin. Auf einem Tisch neben dem Bett stand schmutziges Geschirr, am Boden lagen Kleidungsstücke, Handtücher, Pantoffeln, leere Papiertüten einer Bäckerei, mit seltsamen Zeichnungen vollgekritzelte Zettel, ein Bildband über Alaska, Zeitungen und billige Werbeprospekte.
    Eine Weile stand Wilbur nur da und versuchte sich zu beruhigenund normal zu atmen. Von weit weg hörte er Frauenstimmen, aus den Straßen stieg Verkehrslärm zwischen den Häusern hoch. Schließlich trat er ein paar Schritte näher an das Bett heran und betrachtete den Schlafenden. Obwohl der magere Schädel, über dem sich fleckige, fein geriffelte Haut spannte und auf dem Strähnen gelben Haars lagen, keinerlei Ähnlichkeit mit dem Gesicht auf dem Passbild mehr hatte, erkannte Wilbur seinen Vater sofort.
    Es war nicht die lange Kopfform, die ihn Lennard Sandberg erkennen ließ, auch nicht der Schwung der Nase oder der Lippen, nicht einmal das Muttermal. Es war überhaupt kein Wiedererkennen, keine Erinnerung an eine Fotografie, kein Abgleichen der Wirklichkeit mit den Bildern von früher. Es war ein Gefühl, das nichts mit Wissen zu tun hatte und doch jeden Zweifel ausschloss, und es war so überwältigend, so betäubend, dass Wilbur zu Boden sank und den Kopf auf das Fußende des Bettes legte, schluchzend und unsagbar erschöpft.
    Irgendwann, neunzehn Jahre, neunzehn Sommer, Geburtstage, Weihnachten, hundertmal Drachensteigenlassen, Schlittschuhlaufen, Angeln, tausend Gutenachtgeschichten, sechstausendneunhundertdreiundzwanzig Tage, ein ganzes Kinderleben später griff Wilbur nach der Hand des Mannes, der ihn um all das betrogen hatte, und flüsterte: »Vater.«
    Lennard Sandberg öffnete die Augen ein wenig und schloss sie wieder. Wilbur drückte seine Hand. Sein Vater schlug die Augen erneut auf, blinzelte ins Halbdunkel und bewegte den Kopf zur Seite. Er sah seinen Sohn an, und in seinem Blick lag kein Erschrecken, kein Erstaunen und kein Erkennen. Er öffnete den Mund, und ein leises Ächzen entwich seiner Kehle. Wilbur suchte nach

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