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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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feucht vom nächtlichen Regen.
    »Meine Mutter ist hier vor etwa fünf Jahren eingezogen«, sagte Nathalie, als sie die kleine Lobby betraten, in der hinter einem gewaltigen Pult ein schwarzer Portier saß, dessen blaue, mit goldenen Knöpfen und Troddeln geschmückte Uniform die eines Generals einer imaginären Armee hätte sein können und die Aufgabe der Flagge im Innern weiterführte, nämlich die fast unmerklich fortschreitende Verwahrlosung des Gebäudes mit bezahlbarem Pomp zu kaschieren. »Ein paar Jahre nachdem mein Vater gestorben ist.« Sie winkte dem Portier zu, der zwei Finger an den Mützenschild legte, und ging zum Fahrstuhl.
    Wilbur betrachtete den durchgetretenen Teppich, die abgeblätterteFarbe, den beschädigten Stuck und die kranken Pflanzen in ihren riesigen, mit römischen Ornamenten verzierten Töpfen, warf verstohlene Blicke auf die magere, bleiche Frau, die die nächste Zigarette kaum erwarten konnte, und fragte sich, ob sie erneut einer Geisteskranken aufgesessen waren, einer gelangweilten Spinnerin, die den Pass seines Vaters in der Gosse gefunden hatte und ihnen in der Wohnung ihrer senilen Mutter einen polnischen Onkel als Lennard Sandberg unterjubeln würde.
    »Das war vor neun Jahren. Ein fehlerhaftes Medikament. Meine Mutter hat von der Herstellerfirma viel Geld bekommen und sich diese Wohnung gekauft.«
    Der Fahrstuhl kam, und sie stiegen ein. »Sie kümmert sich sehr gut um Ihren Vater«, sagte Nathalie, während sie nach oben fuhren. Dabei sah sie Wilbur zum ersten Mal richtig an. »Es ist nur ... manchmal ...« Sie wandte den Blick ab und machte eine hilflose Geste mit der Hand. Plötzlich sprach sie sehr schnell, als wolle sie so viel wie möglich loswerden, bevor sie in der elften Etage ankamen. »Manchmal kann sie sich kaum um sich selber kümmern. Und ich, ich kann nicht jeden Tag herkommen und nach ihr sehen.« Sie wischte sich mit dem Taschentuch über die Nase. »Ich habe ein eigenes Leben, eigene Probleme.« Sie sah Alice an. »Verstehen Sie?« fragte sie beinahe flehend, und Alice nickte.
    Wilbur hörte kaum etwas von dem, was die Frau sagte. Er stand da, das Geräusch des Fahrstuhls in den Ohren und das Gefühl schwarzer Leere unter den Füßen, und versuchte sich vorzustellen, wie es sein werde, zum ersten Mal seinem Vater gegenüberzustehen. Er sah sein Gesicht im Spiegel, der an der Stirnseite der Kabine angebracht war, und erschrak über die fahle Maske aus Panik, die ihm entgegenstarrte. Als der Fahrstuhl anhielt, sackte sein wild hämmerndes Herz vom Hals in den Magen, wo es aufhörte zu schlagen. Seine Knie wurden weich, der Flur, durch den sie Nathalie folgten, war tausend Meter lang, Türen mit goldenen Zahlen flogen an ihm vorbei, obwohl er auf dem schwankenden Teppich nicht vorwärtszukommen schien. Fast hoffte er, das Ganze würde sich gleich als erneutes Missverständnis herausstellen, als weiterer schlechter Scherz, der verzweifelte Hilferuf einer vereinsamten Frau.
    »Sie müssen entschuldigen, wenn es etwas unordentlich ist«, sagte Nathalie, als sie vor dem Apartment mit der Nummer 42 standen. Sie drehte den Schlüssel im Schloss, öffnete die Tür und betrat den kleinen, fast dunklen Eingangsbereich. »Bitte, kommen Sie rein«, sagte sie, nachdem sie Licht gemacht hatte.
    Wilbur blieb auf der Schwelle stehen, die Beine schwer und taub. Koffein strömte durch seine Venen und pumpte warme Blitze in seinen Kopf, der Finsternis wollte. Alice war hinter ihm und berührte für einen Moment seine Schulter, dann gingen beide hinein. Nathalie legte den Schlüssel auf eine Kommode, über der ein gerahmtes Ölbild hing. Das Gemälde zeigte eine seltsam leere, in düsteres Licht getauchte Landschaft, durch die ein einsames schwarzes Pferd galoppierte.
    »Mutter?« rief Nathalie. Sie zog die Regenjacke aus und hängte sie an eine bis auf einen Mantel und einen Schirm leere Garderobe. »Legen Sie doch ab«, sagte sie zu Wilbur und Alice. »Ich hole meine Mutter.« Damit verschwand sie in einem der Zimmer, in dem es dunkel und still war.
    »Alles in Ordnung?« fragte Alice. Sie nahm die Strickmütze ab und kämmte sich mit den Fingern einer Hand das Haar.
    Wilbur nickte. Ihm war zu warm, noch immer krümmten sich die Wände vor seinen Augen, und jeder Atemzug in dieser stickigen, nach Zigaretten und Essen riechenden Luft strengte ihn an. Nathalies Stimme drang aus dem Zimmer, dann eine zweite, tiefe und müde. Ein Gegenstand fiel zu Boden, die schlaftrunkene Stimme

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