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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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auf ein helles Rechteck zu, das er für die Küche hielt, landete im Badezimmer und trank kaltes, nach Metall schmeckendes Wasser, mit dem er sich anschließend das Gesicht wusch.
    Eine Weile stand er mit den Händen auf den Waschbeckenrand gestützt da und vermied es, in den Spiegel zu sehen. Dann bewegte er sich tastend zurück ins Wohnzimmer, lauschte auf Geräusche und schob dann vorsichtig eine angelehnte Tür auf, hinter der, mit ausgebreiteten Armen das weiße Rechteck des Betts umschlingend, die Kellnerin lag, leise ächzend in einem erschöpften Schlaf. Sie trug ein weißes Nachthemd, das mit dem Laken verschmolz, und ihr kurzes schwarzes Haar schimmerte im schwachen Licht des Weckers. Wilbur setzte sich auf den Boden und betrachtete die Frau. Vermutlich hatte sie ihm ihren Namen genannt, aber er konnte sich nicht daran erinnern.
    Als sie sich im Traum seufzend von ihm wegdrehte, stand er auf und verließ das Zimmer. Er nahm eine Zwanzigdollarnote aus seiner Brieftasche und legte sie auf den Tisch im Wohnzimmer. Er wollte eineNachricht schreiben, dass das Geld für die Taxifahrt sei, fand aber weder Zettel noch Stift. Draußen fuhr polternd ein Zug über eine Hochbrücke, weit weg tönte die Sirene eines Feuerwehrwagens. Wilbur widerstand dem Drang, sich zurück auf das Sofa zu legen, nahm seine Daunenjacke und ging aus der Wohnung. Im Halbdunkel des Flurs suchte er nach dem Namen auf dem Klingelschild, aber da war nichts. Zurück in der Kälte lief er ein paar Blocks, bis irgendwann ein Taxi hielt und ihn mitnahm.
     
    Zu Hause trank er im Schein des offenen Kühlschranks Mineralwasser aus der Flasche. In seinem Kopf schwelte etwas, das in ein paar Stunden ein heftiger Kater sein würde. Draußen schreckte die Stadt aus dem Halbschlaf. Das Summen Hunderttausender Kaffeemaschinen wurde nur übertönt vom Lärm der ersten Autos und Lastwagen. Eine Alarmanlage trällerte wie ein lauter exotischer Vogel, die Rollgitter von Läden wurden hochgezogen, Zeitungsbündel klatschten auf den Asphalt. Wilbur fror, schloss den Kühlschrank und setzte sich an den Tisch. Neben der Obstschale lag ein Zettel, auf dem ein Name stand, Nathalie Kerkowski, und eine Telefonnummer.
    »Das ist die Frau, die weiß, wo dein Vater ist.«
    Wilbur war zu müde, um zu erschrecken. Er drehte den Kopf, und die Umrisse der Möbel verschwammen, ein dumpfer Schmerz drückte von innen gegen seine Augen. Alice stand in der Tür ihres Zimmers. Sie war angezogen, nicht einmal die Schuhe fehlten. Licht fiel in ihren Rücken und lag auf ihren Schultern wie eine dünne Lage Schnee. Wilbur war noch immer kalt. Er erhob sich, um Teewasser aufzusetzen.
    »Ich bin gestern Abend nicht zu dem vereinbarten Treffen gefahren. Eine Stunde später hat sie angerufen.« Alice kam zum Tisch und hob den Zettel auf.
    Wilbur starrte auf das rote Licht des Wasserkochers. Ihm war übel. Das Scheppern eines Müllwagens hallte zwischen den Häusern.
    »Sie weiß, dass er getrunken hat.«
    Das Wasser fauchte, bevor es den Siedepunkt erreichte. Wilbur sah Alice an. Dann wandte er sich ab und nahm eine Tasse und die Büchse mit Schwarztee aus dem Schrank. »Hat? Ist er tot?« Das Gefühl von Scham über diese Frage wich rasch dem Erstaunen darüber, wie sehrer sich noch immer nach einer Antwort sehnte, nach endgültiger Klarheit.
    Alice setzte sich an den Tisch. Sie sah müde aus, aber nicht verschlafen. Wilbur kam der Gedanke, dass sie gar nicht im Bett gewesen war. Vielleicht hatte sie die ganze Nacht auf ihn gewartet. »Nein. Er lebt in der Bronx, mit einer Frau.«
    Wilburs Brust und Kehle krampften sich zusammen, dass er kaum noch atmen konnte. Er spürte, wie sein Herz raste. Eine Weile stand er an die Spüle gelehnt da, die Augen geschlossen, und versuchte, Luft in die Lungen zu bekommen.
    »Lass uns hinfahren, Will.« Als Alice neben Wilbur trat, sah sie die Tränen, die ihm über das Gesicht liefen. Sie nahm ihn in die Arme, streichelte seinen Kopf und schaukelte ihn sanft hin und her, und er ließ es zu.
     
    Sie trafen Nathalie Kerkowski nahe der U-Bahn-Station Cypress Avenue in einem Diner, das rund um die Uhr geöffnet hatte. Nathalie wartete vor der Tür, wo sie in der Kälte eine Zigarette rauchte. Sie war schmal wie Alice, aber kleiner und ein paar Jahre jünger, und sie trug eine dünne blaue Regenjacke, in der sie fror. Ihr schulterlanges schwarzes Haar wurde von ein paar Klammern aus dem bleichen, nachlässig geschminkten Gesicht gehalten. Sie wirkte

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