Nach Hause schwimmen
durchwachsener Bauch hob und senkte sich im Rhythmus seiner Atemzüge. Lorraine trat an den Kasten heran, löste die Verriegelung an der Klappe und schob ihre rechte Hand durch die Öffnung. Wilburs Kopf war warm und trocken, Flaum aus farblosem Haar stand in alle Richtungen ab. Lorraine strich vorsichtig über den durch die Geburt leicht deformierten Schädel, ständig damit rechnend, dass Wilbur wieder zu schreien anfing. Aber er schrie nicht. Er lag da, den Blick abgewandt, und schien den leisen Worten zu lauschen, die Lorraine an ihn richtete, während sie mit den Fingern sanft über den Wulst fuhr, an dem die beiden Schädelhälften zusammenwuchsen.
Als Wilbur nach Lorraines kleinem Finger griff und ihn mit erstaunlicher Kraft festhielt, traten ihr Tränen in die Augen. Mehrere Minuten blieb sie so stehen, weinte leise vor sich hin und fuhr mit dem Daumen über seine winzigen Knöchel. Sie musste die Fingerchen, die sie so energisch umklammerten, mit der freien Hand lösen und eilte hinaus, ohne sich noch einmal nach dem Kind umzudrehen.
Weil nach Lorraines Weggang keine der Schwestern den Brauch mit den bestickten Kissen weiterführen wollte, blieb Wilbur für unabsehbare Zeit der letzte Säugling, dem diese Ehre zuteil geworden war. Dass auf seinem Bezug nur WILB stand, schien niemanden zu stören. Jeder im Saint Francis nannte ihn so. Wilb. Sogar der Name war zu kurz geraten.
Eine der Schwestern, Edna Porter, machte es sich zum Ziel, dass Wilbur wuchs. Sie badete ihn, puderte seine gerötete Haut, rieb seinen wunden, verschrumpelten Hintern mit Salbe ein und glättete seine störrischen Haare, indem sie etwas Spucke benutzte. Mehrmals täglich gab sie ihm die Flasche, und während Wilburs Kopf an ihrer schweren, unter dem weißen Kittel sich abzeichnenden Brust lag, summte sie Breakfast In America von Supertramp und schaukelte langsam vor und zurück.
Fütterte ihn Edna, starrte Wilbur an die Decke. Nur manchmal, wenn Edna selbstvergessen trällernd ins Leere blickte, sah er sie für Sekunden mit Augen an, in denen so etwas wie Neugier stand. Die klassische Schönheit von Lorraines Gesicht hatte er längst vergessen, jetzt überwältigten ihn Ednas üppige Sinnlichkeit, ihr wogender Körper, ihre großen fleischigen Hände. Sie roch süßlich, und ihre Stimme klang tiefer als die der anderen Schwestern. An dem Tag, an dem Lorraine gegangen war, hatte er aufgehört zu schreien, als habe er begriffen, dass sich dadurch nichts ändern könne. Und seit jenem Tag waren Geräusche, die er zuvor übertönt hatte, zu einem Teil seines Lebens geworden. Die Stimmen der Ärzte und Schwestern, die Laute, die aus den blinkenden Maschinen kamen, Schritte von Gummisohlen auf Linoleum, das entfernte Quietschen der Räder des Gerätewagens, den die Putzfrau durch den Flur schob, dumpf durch die Wände dringendes Telefonklingeln. Alles war neu, verwirrend und beängstigend.
Schön und beruhigend war nur Ednas Stimme. Sang sie, fühlte sich Wilburs Bauch warm an, beinahe heiß. Und wenn sie ihn berührte, nicht zaghaft wie die anderen, die Angst hatten, er könnte zerbrechen, sondern unzimperlich zärtlich, war er so glücklich, wie sein mandarinengroßes Gehirn Botenstoffe losschicken konnte.
Edna bewarb sich um die Stelle als Sprechstundenhilfe bei einem jungen Arzt, der seine erste Praxis eröffnete, wurde genommen und verließ das Saint Francis. In den ersten Tagen, an denen Edna nicht bei Wilbur war, lag der Junge still und fast reglos da und sah an die Decke aus weißen Kunststoffplatten. Er vermisste Edna. Es war nicht die gleiche Sehnsucht, die ihm nach der Geburt die ersten Qualen seines Lebens bereitete. Er merkte ganz einfach, dass etwas von ihm weggenommen worden war, das nichts und niemand zu ersetzen vermochte. Neue Schwestern kümmerten sich um ihn, einige davon dünn und beinahe brustlos, andere weich und füllig. Alle wussten von der engen Bindung, die zwischen Schwester Edna und Wilbur bestanden hatte, und alle versuchten, ihren Platz einzunehmen. Aber etwas, das sich in den kommenden Jahren zuWilburs Unterbewusstsein entwickeln würde, weigerte sich, seine Liebe erneut an eine Frau zu verschwenden, an ein neues warmes Wesen, dem er sich hingab und auslieferte, nur um irgendwann verlassen zu werden.
Das erste Pferd seines Lebens sah Wilbur im Park des Kinderheims Chestnut Hill in Reading, Pennsylvania, etwa achtzig Kilometer nördlich von Philadelphia. Die alte, aus mehreren
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