Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
gewollt hätte, dass ich den Tag mit unnützen Gedanken verschwende, hätte er mich zum sorglosen Äffchen im Urwald gemacht.« »Ich bin ein leeres Gefäß, und meine Unaufmerksamkeit ist der Riss, durch den das Wissen rinnt.« »Die Schule ist ein Ort des Fleißes und Lernens, nicht des Müßiggangs und Träumens.«
     
    Immerhin war Wilbur nicht der einzige, der nachsitzen musste. Auch andere Kinder schenkten dem Unterricht nicht die Beachtung, die Miss Ferguson forderte. Zudem verhängte sie Strafen für alles, was in irgendeiner Weise gegen ihre selbsterlassenen und ständig erweiterten Regeln verstieß. Ihr langer Katalog der Vergehen reichte von kleinen Sünden wie schmutzige Fingernägel, Nasebohren oder Bleistiftkauen über schwerer wiegende Verstöße wie Abschreiben, Ritzen von Initialen und Zeichen in die Pultdeckel oder Mitbringen von Spielzeug und Comic-Heften bis zu Kapitalverbrechen, zu denen unentschuldigtes Zuspätkommen, dreckige Schuhe im Klassenraum und Prügeleien zählten und die, je nach Schwere, mit einmaligen Ermahnungen, Strafaufgaben und Nachsitzen geahndet wurden.
    Weil Wilbur immer mit sauberen Schuhen und Fingernägeln zur Schule ging, alleine in der vordersten Bank saß und somit niemanden zum unerlaubten Reden hatte, den Indianer auf dem Pferd nie aus der Hosentasche nahm und auch sonst nichts tat, was Miss Ferguson hätte missfallen können, blieb es bei den zwei bis drei Stunden Nachsitzen pro Woche wegen Tagträumens. »Es ist nicht lehrreicher, vorüberflatternde Vögel zu beobachten, als den Ausführungen der Lehrerin zu folgen.« DOCH ! hätte Wilbur am liebsten hinter jede Zeile geschrieben. Zu Hause lag Die Schatzinsel auf seinem Kopfkissen, und im Regal warteten Reise zum Mittelpunkt der Erde und In achtzig Tagen um die Welt auf ihn, und sie lasen seit Monaten in einem Buch, dessen Sätze so einfältig und langweilig waren wie die Illustrationen dazu. »John kauft einen Apfel im Laden.« »Mister Smith trägt einen neuen braunen Hut.« Natürlich warendie Vögel vor dem Fenster interessanter! Jedes ihrer Flugmanöver war aufregender als alle dummen Sätze des Buches zusammen. Jeder Flügelschlag, jedes Glitzern der schwarzen Federn im Licht war tausendmal spannender als die Art, wie Miss Ferguson ihr Wissen weitergab. »Mit meiner Weigerung, dem Unterricht zu folgen, beschäme ich nicht nur mich und die Schule, sondern auch meinen Schöpfer.« Selbst nach der hundertsten Niederschrift gelang es Wilbur nicht, die tiefere Bedeutung des Satzes zu begreifen.
    Conor Lynch machte sich gar nicht erst die Mühe, den Sinn der Wörter zu ergründen, die er ungelenk und mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen zu Papier brachte. Es war eine Bestrafung, und er nahm sie hin wie schlechtes Wetter oder Zahnschmerzen. Im Gegensatz zu Wilbur bereitete es ihm große Mühe, die Seite innerhalb einer Stunde zu füllen, und das, obwohl er es noch immer mit den einfachen Sätzen zu tun hatte. Je mehr sich der Minutenzeiger der Zwölf näherte, umso schneller versuchte er zu schreiben und umso unleserlicher wurde seine Schrift, die ihm bereits unter größter Anstrengung nur ein Ungenügend einbrachte. Dann begann er zu ächzen und mit den Füßen zu scharren, und Wilbur konnte seinen Schweiß riechen.
    Während Wilbur ruhig und flüssig Satz um Satz aufreihte, genoss er die Pein, die Conor Lynch erduldete. Jeder Seufzer erfüllte ihn mit Genugtuung, jedes kaum hörbare Wimmern entschädigte ihn für die Schläge, die er von dem Rüpel oder einem seiner Kumpane eingesteckt hatte. Heulte Conor leise auf, wenn ein Tintenklecks eine ganze Zeile ruinierte, hüpfte Wilbur das Herz vor Freude. Auch bei Conor hatte Wilbur zu Beginn des Schuljahres einen Fehler begangen, indem er ihn während des Nachsitzens schadenfroh angrinste. Später auf dem Flur und von Miss Ferguson unbemerkt, hatte Conor sich mit einer Kopfnuss gerächt, die Wilburs Schädel noch Stunden später summen ließ. Seither verkniff er sich jegliche Reaktion auf Conors Leiden und beschränkte sich darauf, seine kleinen Triumphe heimlich zu genießen.
    Manchmal, wenn er seine Strafe absaß und Miss Ferguson für kurze Zeit den Raum verließ oder an ihrem Pult in ein Buch versunken war, sah Wilbur aus dem Fenster. Dabei achtete er darauf, den Kopf nur ein wenig zu drehen, kaum sichtbar, und stattdessen den Blick so weit wiemöglich zur Seite zu lenken. Wenn er dann Orla entdeckte, die weit entfernt auf dem leeren Feld neben der Schule

Weitere Kostenlose Bücher