Nach Hause schwimmen
war der vor Liebe glühende Kern seiner Welt, und er wollte niemanden sonst in dieser Welt haben. Allen voran nicht seinen Großvater, der einen Schatten warf auf die Sandkastenstädte wie der Riese aus dem Märchen, das Orla ihm vorgelesen hatte. Wenn der Mann nur weg wäre, dachte Wilbur vor dem Einschlafen, wenn er nur aus dem Haus gehen und nicht mehr zurückkommen würde.
Aus dem Haufen war ein Hügel, aus dem Hügel ein Berg geworden. Sein Erbauer war gleichzeitig geschrumpft, ging gebückt die Stufen hinauf und trug Steine wie Opfergaben. Sogar auf der Spitze wirkte er klein, eine Termite auf ihrem Bau. Mit schrundigen Händen und die Finger fast steif von der Gicht, ruhte er sich manchmal auf den Resten der Kirche aus, trank Wasser aus dem Krug, in dem sommers tote Insekten schaukelten, und aß den Kanten Brot, der in ein Tuch gewickelt war. Er sah die runde Steinpyramide nicht als sein Werk, sich selber jedoch als Werkzeug. Er kaute Brot mit den paar Zähnen, die ihm geblieben waren, und vermied es, auf das Meer hinauszusehen.
Stand die Sonne über ihm und blieb er zu lange sitzen, erwärmte sich sein Kopf, und etwas darin schien sich mit Lichtpartikeln anzureichern. Bilder leuchteten schwach und verschwommen auf, zitterten wie die Säure in einer Batterie, die keine Kraft mehr hat, einen ganzen Mechanismus in Bewegung zu setzen. Zu matt war das Glimmen, um ihm die Gesichter zu zeigen, die er einmal gekannt hatte. Staub auf dem Flügel einer Motte waren sie, aufgeladen mit Mondlicht, rasch verblassend.
Wolken strichen über Eamon hinweg, Regen und Wind. Die Tage vergingen, die Jahre, alle wirklichen und erdachten Leben. Er hockte auf kaltem Stein und atmete, ein verbrauchter Körper, unnütz zur Aufbewahrungvon Erinnerung. Nie jung gewesen, nie ein Kind. Nie der Mann, der am irischen Nationalfeiertag beschließt, seinem erfundenen Leben ein Ende zu setzen, indem er die Wahrheit erzählt. Nie der junge Kerl, der vor versammelter Menge eine Beichte ablegen, sich bei seinen toten Eltern entschuldigen will. Der in der Rede, die er im Grattan Park in Galway halten soll, einen Lügner aus sich machen will, einen Betrüger und Dieb, vielleicht einen Mörder. Der alles vergisst, als er sie sieht. Seine Vorsätze über den Haufen wirft, seine Zuhörer begeistert mit Anekdoten von Bären und Banditen und dabei nur sie ansieht. Für sie alle Lügen wiederholt, alle Geschichten bestätigt und alle Legenden glänzen lässt wie das Gold, das er ihr schenken will.
Dieser Mann war er nicht. Vielleicht kannte er ihn, früher einmal, hatte seine Geschichte in einer Zeitung gelesen, denselben Artikel zweimal am selben Tag. Zweimal die Geschichte, deren Held ein junger Ire war, der in Amerika zu einem neuen Leben kam. Nein, das war er nicht. Wer sollte ihm das Lesen beigebracht haben? Sein Vater? Nicht einmal an den Geruch von Schafen erinnerte er sich. Er saß auf den letzten in die Erde sinkenden Steinen, die den Umriss eines Schiffs in die Wiese zeichneten, und kaute Brot, das jeden Tag in der Küche lag. Wer es dort für ihn hinlegte, wusste er nicht. Manchmal sah er eine Frau, die ihm aus dem Weg ging. Es kam vor, dass ihr Anblick eine Helligkeit in ihm entfachte, ein Funkeln nur, zu kurz, um eine wirkliche Empfindung auszulösen, aber lange genug, um eine Ahnung zu wecken, die jedoch bald abklang.
Nie würde er erfahren, wer die Frau war, die das Brot besorgte und die Äpfel, die seine Kleidung wusch und wusste, dass er Rindfleisch und Kartoffeln mochte und Kuchen. Und nie mehr würde er sich daran erinnern, dass er der Mann war zu dieser Frau. Dass es Zeiten gegeben hatte, da sie neben ihm lag. Dass ihr das Haar gehörte, das er auf dem Laken gefunden und das er um den Finger gewickelt hatte an der Stelle, an der früher ein goldener Ring gewesen war.
Nichts war ihm geblieben, wenn er unter dem weiten Himmel saß, kauend wie ein Schaf, und die Sonne ertrug und den Regen und die Kälte. Verschwunden waren die Bilder in seinem Kopf, die ihn mit den beiden Schwestern zeigten, Hand in Hand durch die Nacht treibend undetwas mit aller Kraft festhaltend, das ein Versprechen auf Glück schien, auf Trost und auf Vergebung.
Orla wollte Wilbur zu Hause unterrichten und stritt mit den Behörden fast ein Jahr lang um dieses Recht. Sie hatte es geschafft, ihn vor dem Vorschulunterricht und der ersten Klasse zu bewahren, aber obwohl der Junge fließend lesen und schreiben und einigermaßen rechnen konnte und wusste, was
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