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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Bewegung ist ihr nicht anzumerken. Am Ende aber setzt sie sich an den Tisch, vor die Bilder, und schreibt ihren Aufnahmeantrag für die Universität.
    So ist sie in den Hörsaal geraten, vor dieselbe Tafel wie ich, vor denselben sommersprossigen Jungen, der durchaus mit uns einen Kindergarten bauen will. Er heißt Günter, sagt Christa T. – da sind wir fast am Bahnhof –, ich kenne ihn, er ist nicht zu bremsen. Das ist der Augenblick, da wir zu lachen anfangen, lachen dann weiter, bis meine Bahn kommt.
    Alle die Tage, die vor uns liegen

4
    Christa T. war scheu.
    Vor allem anderen die Angst, einem selbst könnte zustoßen, was gang und gäbe war: spurlos zu verschwinden. Sie war gezwungen, Spuren zu legen, hastig und nachlässig, daß die Rechte nicht weiß, was die Linke tut, daß man jederzeit alles wieder verleugnen kann, vorzugsweise vor sich selbst. Daß auch keiner verpflichtet ist, mich zu finden, es sei denn, er suchte ausdrücklich – aber wer geht so schwachen Abdrücken nach, wie uneingestandene Angst sie hinterläßt ... Wer hätte so viel beschriebenes Papier erwartet? Warum schreibst du nicht, Krischan? Ja, ja, sagte sie, bestritt nicht, gab nicht zu. Wartete. Wußte lange nicht, worauf, da bin ich sicher. Sie muß frühzeitig Kenntnis bekommen haben von unserer Unfähigkeit, die Dinge so zu sagen, wie sie sind. Ich frage mich sogar, ob man zu früh davon erfahren und für immer entmutigt werden, ob man zu früh klarsichtig, zu früh der Selbsttäuschung beraubt sein kann. So daß man verzichtet und die Dinge ihrem Lauf überläßt. Dann haben sie keinen Ausweg: nicht den der Ungenauigkeit, nicht den der Lüge ... Dann machen sie das Beste aus sich, oder das Schlimmste. Oder das Mittelmäßige, was oft das Schlimmste ist. Und was man, wenn man sich davon bedroht fühlt, allerdings nicht mehr mit Schweigen übergehen kann.
    Daß ich nur schreibend über die Dinge komme! – Hat sie es sich wirklich vorgeworfen? Erklärt dieser geheime Selbstvorwurf den Zustand ihrer Hinterlassenschaft? Der Tagebücher, Skizzen, Beobachtungen, Geschichten,Titellisten, der Entwürfe und Briefe. So viel Achtlosigkeit läßt sich nicht mehr als Unordnung tarnen oder als Flüchtigkeit. Der Vorwurf der Schwäche schimmert durch, mit der sie sich gegen die Übermacht der Dinge zu wehren meinte: schreibend. Und, trotz allem, über die Dinge kam. Sie hat nicht gewußt, daß sie das von sich sagen konnte.
    Mir fällt ein, daß wir sie nie fragen konnten: Was willst du werden? Wie man andere doch fragt, ohne fürchten zu müssen, an Unaussprechliches zu rühren. Man saß sich gegenüber, im Oberstock unseres Stammcafés (Christa T. hatte die Universität gewechselt, auch das Fach, sie studierte das dritte, vierte Jahr, als ich sie wiedertraf), sie blätterte in Aufzeichnungen. Man sieht sie oft an diesem runden Marmortisch in der Nische sitzen, mit verschiedenen Leuten, die nur mit ihr, nicht untereinander befreundet sind. Sie sitzt auch allein da, sie hat zu tun, scheint es. Sie bereitet sich vor – worauf? Mit den letzten Pfennigen Stipendium bezahlt sie den billigen dunklen Kuchen, sie tut, was alle tun, warum soll man sie nicht fragen dürfen, es wäre ja gelacht: Was willst du werden, Krischan? Da läßt sie die Kladde sinken, mit einer Bewegung, die man nicht gesehen haben will, da hat sie das Seminar vergessen, das ihr Sorge machte, kann lange hinaussehen, hinunter auf die Leute, die einzeln und in Gruppen aus der dunklen gegenüberliegenden Gasse treten, sich trennen, einander noch einmal zuwinken oder gemeinsam weitergehen: Alltäglicher konnte kein Schauspiel sein. Was sah sie denn? Also? – Der bekannte Blick, dunkel, leicht spöttisch, ein wenig vorwurfsvoll. Ich? Lehrerin doch wohl? konnte sie fragen. Da gab man es auf, da schwieg man, ließdie Sache auf sich beruhen, bestand nicht darauf, sie festzulegen, da allzu deutlich war: Sie konnte es wirklich nicht wissen. Sie gab sich ja Mühe hineinzupassen, sie fiel nicht aus bloßem Übermut heraus. Sie hatte ja den guten Willen, sich einen der Namen zuzulegen, die auf andere so vorzüglich zutrafen, sie hat es sich als Mangel angekreidet, daß sie nicht fröhlich wie aus der Pistole geschossen erwidern konnte: Lehrerin, Aspirantin, Dozentin, Lektorin ...
    Ach, sie traute ja diesen Namen nicht. Sie traute sich ja nicht. Sie zweifelte ja, inmitten unseres Rauschs der Neubenennungen, sie zweifelte ja an der Wirklichkeit von Namen, mit denen sie doch umging; sie ahnte

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