Nachdenken ueber Christa T.
es fast nicht erkannt.
Wen – das Mädchen nicht oder die Frage nicht?
Beides, erwidert er.
Sie aber denkt: So mag es gehen. Unerkannt, aber vorhergesehen. Besser kann ich es mir nicht wünschen.
Zeig mir deine Hände, sagt sie.
Er tut es einfach. Entweder, sagt er, es ist dir ganz schlimm ergangen oder gar nicht.
Ganz schlimm, sagt sie. Gar nicht.
Du bist sehr merkwürdig, sagt er. Und ich weiß: Was auch passiert, du gehst. Ich kann dich nicht halten.
Nein, das kannst du nicht.
Muß ich drei Proben ablegen? fragt er noch.
Gut, drei Proben.
Da ist die Sonne nur noch eine Handbreit über dem Horizont. Jede Menge Zeit.
Die erste: Was hab ich eben gedacht?
Du denkst Tag und Nacht, daß du um jeden Preis hier weggehen wirst und daß keiner dich halten kann.
Die zweite: Was wird aus mir?
Das willst du nun von mir wissen, sagt er bitter. Noch dazu hast du falsch gefragt. Was muß aus mir werden, hättest du fragen sollen. Denn sonst wüßt ich’s.
Drittens, sagt Christa T., was braucht der Mensch?
Eine Aufgabe, sagt er, endlich überzeugt.
Das hast du dir selbst zuzuschreiben, solche Proben gehennie eindeutig aus, und das hast du auch gewußt. Die Sonne ist auch untergegangen, nichts ist entschieden. Das merk dir mal.
Ich hab’s gewußt, sagt der Mann neben ihr. Sie hört ihn aufstehen.
Bleib doch, sagt sie da. Bleib.
Bloß sie hat es sein müssen, die wählte, hier und immer.
Versprechen, sagt sie, versprechen kann ich allerdings nichts.
So oder anders. In diesem oder im folgenden Jahr. Dieser oder ein anderer. Sommerliebe, wird sie sagen, später, zu mir. Der Sommer wird nicht lang und nicht kurz gewesen sein, die Liebe nicht zu schwer und nicht zu leicht, das Nachbardorf, oder was immer es war, nicht zu nah und nicht zu weit. Der Weg um das Dorf noch vertraut und schon fremd. Sie aber sich selbst bis zum Überdruß bekannt und schmerzhaft unbekannt.
Das soll sie gehabt haben, ich will es. Sie soll erfahren haben, was sie wissen mußte, und gegangen sein. Schwer zu erzählen.
Sie kam in die Stadt und blieb lange allein.
Zu meiner Überraschung sehe ich, daß man beides erklären muß, so einleuchtend mir das eine wie das andere damals vorkam. Ihre Schwester, die um ein Jahr ältere, die sie sehr liebte, mag sie dringlich befragt, sogar gewarnt haben, aus der Kenntnis ihrer Gemeinsamkeiten, aus Sorge, die Jüngere könnte sich überanstrengen, was leicht geschah. Der Vater hat, wortlos fast, seine Anfälligkeit ins Spiel geführt, sie wäre der willkommene Nachfolger an seiner Schule gewesen. Die Mutter hat, wenn sie unter sich waren, in Worte gebracht, waser nur andeutete: Sollte sie alleine zurückbleiben? Und was würde dann aus der Dienstwohnung, die sie bewohnten?
Christa T. ging dann doch. Sie hat diesen Vorgang – wegzugehen – später noch öfter wiederholt, dahinter verbirgt sich ein Muster, schon ablesbar beim erstenmal: hinter sich lassen, was man zu gut kennt, was keine Herausforderung mehr darstellt. Neugierig bleiben auf die anderen Erfahrungen, letzten Endes auf sich selbst in den neuen Umständen. Die Bewegung mehr lieben als das Ziel. – Die Nachteile einer solchen Natur für ihre Umgebung und für sie selbst liegen auf der Hand. Damals, übrigens, fiel sie wenig auf: Jedermann war gezwungen, den Mut zur Bewegung in sich wachzuhalten, die Zeit floß sehr schnell. Man überlegte nicht lange, fischte sich fast, ohne hinzusehen, ein Leben heraus, fragte nicht viel, ob es paßte, lebte es eben, da wurde es passend. Oder jedenfalls glaubte man das mit der Zeit.
Die äußeren Umstände freilich standen dazu im lächerlichen Widerspruch. Christa T., in der neuen Stadt, sah sich Zimmer an, Wirtinnen. Sie begriff, daß sie nach siebzehn Pappeln nicht suchen durfte, da ging sie lieber gar nicht ans Fenster. Sie schob die Unterlippe vor, also gut, sie nahm das Zimmer. Die Straße war nach einem deutschen Philosophen benannt. Abends wusch manchmal ein Kind sorgfältig die Ziersteine im baum- und strauchlosen Vorgarten ab. Frühmorgens klopften Armeen von Hausfrauen ringsum auf allen Höfen ihre Teppiche. Und in der Tür erschien die Wirtin, einen Brief zwischen spitzen Fingern oder unter dem Arm einen Wandspruch, den Christa T. eben heruntergenommenund in den Flur gestellt hatte – »Wenn auch der Hoffnung letzter Anker bricht, verzage nicht.« Wär es möglich – auch dieser sollte Ihnen nicht gefallen? So wollen Sie ohne jeden geistigen Zuspruch leben? Die Dame Schmidt,
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