Nachdenken ueber Christa T.
ich. Aber da hast du noch Glück gehabt!
Aus jener Zeit habe ich ja ihr Bild.
Ja, das mag sein, daß sie bei den Kindern Schutz gesucht hat. Ihr leichter, gefährdeter Atem, ihre kleinen Hände in den eigenen. Und daß mit ihnen nur wichtige Dinge wichtig bleiben. Liebe, zum Beispiel, sie kann doch nicht aufhören, etwas davon zu halten. Als die Zweifelkamen – Liebe, was ist das schon, Liebe! Läßt sich auch nur ein Stäubchen damit bewegen? –, da hat sie manchmal an das kleine Schulhaus gedacht, an die dreißig Kinder vor ihr auf alten, wackligen Bänken, schlechtgekleidet, hungrig, und ach du mein Gott, ihre Schuhe! Aber Schutz anbieten mit der eigenen Schutzlosigkeit ...
Drei Jahre. Die Dachkammer mit den schrägen Wänden, der Stapel schlechtgebundener Hefte mit dem grauen, dicken Papier, die neuen Namen auf den Buchdeckeln: Gorki, Makarenko, die neuen Broschüren, die, so wichtig wie die tägliche Nahrung, jedem in die Hand gegeben werden, der seine Hände nicht zumacht. Ihr kommt, merkwürdig genug, manches bekannt vor, was sie da liest, ihr leuchtet ein, daß es gedacht werden konnte, sie begreift nicht, wieso danach, nach dieser vernünftigen Klarheit, das Äußerste an Unvernunft noch möglich gewesen sein soll. Sie springt auf. Ja, so wird es sein. Dies ist der Weg zu uns selber. So wäre diese Sehnsucht nicht lächerlich und abwegig, so wäre sie brauchbar und nützlich.
Kein Wort davon auf unserem ersten Weg. Zwei, drei Titel im Höchstfall, nüchterne philosophische und ökonomische Begriffe: Werde ich Bescheid wissen? Den Schmerz der Selbstausdehnung kennen, auch die Lust, die man nie mehr vergessen und an der man alle künftige Lust messen wird? Wieviel wird da zu verwerfen sein! Sie aber, Christa T., auf unserem Weg zum Bahnhof, sie schlägt den Kragen hoch, ehe ich ihr zu nahe treten kann. Man weiß, nun gut. Was weiter?
In ihrer Kammer aber, damals, aufsehend von den strengen, erleuchtenden Sätzen der Broschüren, tritt sie ans Fenster. Der Blick auf die siebzehn Pappeln. Auf die höchsteklettert heute der Sohn des Schäfers, Schüler meiner Klasse, und holt das Elsternnest herunter, unter den anfeuernden Rufen der Bande am Fuß des Baums. Die Eier aber, fast ausgebrütet, wirft er eins nach dem anderen gegen den großen Feldstein, an dem ich ihnen vorige Woche die geologischen Schichten ihrer Heimatlandschaft erklärt habe. Und ich stehe da, habe meine Broschüren gelesen, sehe mir das mit an und möchte heulen. So dünn ist die Decke, auf der wir gehen, so dicht unter unseren Füßen die Gefahr, durchzubrechen in diesen Sumpf. Den Kater an die Stallwand schleudern, den Jungen im Schnee liegenlassen, die Vogeleier gegen den Stein werfen. Das wird sie nun treffen, sooft es ihr begegnet.
Das Bild! Das Gesicht der Lehrerin, Christa T., »das Fräulein«, einundzwanzigjährig, inmitten der zweiunddreißig Kindergesichter, vor der Backsteinwand des Schulhauses. In diesem Augenblick mögen sie wieder da stehen, die Kinder der damals Zehnjährigen, und sich fotografieren lassen, und die Lehrerin wird einundzwanzig sein, aber sie sieht anders aus. Mit dem alten Bild möchte ich durch das Dorf gehen, mich unter den fast Dreißigjährigen umsehen: Kennt ihr sie noch? Wißt ihr wenigstens noch den Namen? Habt ihr – das eine vielleicht doch – behalten, wie sie euch beschwor, die jungen Katzen nicht im Fluß zu ertränken, die alten blinden Hunde nicht mit Steinwürfen zu verfolgen, die Küken nicht gegen die Wand zu werfen? Habt ihr über sie gelacht? Oder dann, ihr Mädchen, deren Frauengesichter schon durchschimmern auf diesem Bild, habt ihr nicht einmal doch an sie denken müssen, als ihr eure Kinder auf den Armen hattet?
Die Kindergesichter. Lachende, selbstzufriedene, ein paar ängstliche, ein drohendes, einige finstere, aber ein Geheimnis kann ich nicht entdecken. Anders die Lehrerin, links oben, letzte Reihe. Sie hat etwas zu verbergen, eine Wunde, könnte man denken, die schwer heilt. Sie ist zurückhaltend, gefaßt. Da man sich an sie hielt, hat sie Halt gefunden. Da man sie darum bittet, lächelt sie. Die Augen, freilich ...
Ist das ihr Platz auf die Dauer? Drei Jahre lang stellt sie sich vor den großen Ferien zu ihrer Klasse, der Fotograf drückt auf den Knopf, er entwickelt die Platte, er sieht keinen Unterschied, liefert die Bilder ab und kassiert das Honorar. Die Lehrerin, Christa T., geht in ihre Kammer und stellt die drei Bilder nebeneinander, betrachtet sie lange, eine
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