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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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ja, daß die Benennung kaum je gelingt und daß sie dann nur für kurze Zeit mit dem Ding zusammenfällt, auf das sie gelegt wurde. Sie zuckte davor zurück, sich selbst einen Namen aufzudrücken, das Brandmal, mit welcher Herde in welchen Stall man zu gehen hat. Leben, erleben, freies großes Leben! O herrliches Lebensgefühl, daß du mich nie verläßt! Nichts weiter als ein Mensch sein ...
    Was willst du werden, Krischan? Ein Mensch? Nun weißt du ...
    Sie ging ja schon. Sie gab ja zu, daß man an sich zu arbeiten hatte. Sie verschwand für Tage. Sie arbeite, hieß es, und wir taten, als glaubten wir daran; dann war sie wieder da, kurz vor den Prüfungen. Wir hatten den ganzen Stoff schon wiederholt, wir hatten schon unsere Kladden ausgetauscht, hatten schon Auszüge gemacht und Karteikarten angelegt, hatten Lernkollektive gebildet und waren Verpflichtungen eingegangen: Keine Durchschnittsnote unter »gut«! Da erschien sie wiederund konnte sich unschuldsvoll nach den Themen erkundigen. Wir verbargen unsere Verzweiflung. Anstatt sie in der nächsten Versammlung zu befragen, wo sie denn um Gottes willen gewesen sei, womit sie denn ihre Tage hingebracht habe, anstatt sie zur Verantwortung zu ziehen, steckte man ihr Hefte zu, bot ihr Hilfe an. Günter, unser sommersprossiger Sekretär, legte ihr seine Tabellen vor: wie sie durch schlechte Lernergebnisse die Durchschnittsnoten ihrer Seminargruppe drücken werde. Ob sie das wirklich wolle? – Um keinen Preis! sagte Christa T., ihr seid ja alle so tüchtig! Sie ging zu einer Freundin, Gertrud Born, und ließ sich das Versschema der Merseburger Zaubersprüche abfragen, gehorsam deklamierte sie: Ik gihôrta d’at seggen, es wurde spät, sie mußte nach Hause gebracht werden. Es stellte sich heraus, daß sie Dostojewski gelesen hatte und nun nachdenken mußte über die Behauptung, das Allerweichste könne das Allerhärteste besiegen. Ob dieser Satz immer gelte, mußte man sich doch fragen.
    Da waren sie schon an ihrer Haustür. Sie brachte Gertrud wieder zurück und überlegte laut, wie aus den Stücken von Leben, die jedem hingehalten werden, ein ganzes Leben zu machen wäre und ob dies überhaupt das Ziel sei ... Wenn aber dies nicht, was dann? Da gingen sie wieder zu ihrem Haus zurück. Die Stadt war schon verstummt. Fern in der Hauptstraße fuhr die letzte Straßenbahn. Vor Müdigkeit lehnten sie sich an eine Plakatwand. Hinter einigen Fenstern brannte noch Licht. Warum blieben die Leute wach? Griff die Unruhe um sich? Steckte sie alle an? Und wie sollte man ihnen Mut machen zu ihrer Unruhe? Sehnsucht, du Vogel mit dem leisesten Schlaf ...
    Von Liebe war kaum die Rede. Sie blieb allein, das kam uns nicht merkwürdig vor. Einmal, als sie sich mit unserem Kind zu schaffen machte, als mir ihre Versunkenheit zu denken gab, habe ich sie geradeheraus danach gefragt. Das ist, hat sie gesagt, schwer zu erklären. Obwohl, diesmal, weißt du, bin ich fast sicher. Glaube ich, setzte sie dann noch hinzu.
    Und du weißt, wovon du sprichst?
    Sie lächelte. Aber wir dachten beide nicht an jene Szene an der Schulmauer, vorbei war ihre Überlegenheit, ich war es, die zu fragen hatte. Jedenfalls, wenn ich mein Leben mit dem ihren verglich, konnte ich mich für berechtigt halten zu fragen, ob sie überhaupt wisse, wovon sie spreche.
    Nun immerhin, sagte sie. Dieses und jenes habe es schon gegeben.
    Ich nannte einen Namen.
    Ach, nicht doch, sagte sie. Schon früher. Eine Sommerliebe. Und alles, was dazugehört. Aber das ist, fügte sie dann noch hinzu, schwer zu erzählen. Ach, das ist lange her. – Sie nahm ihr Buch wieder auf und verfiel in Schweigen.
    Schwer zu erzählen. Aber gar nicht erzählbar unter dem entmutigenden Zwang der Tatsachen, die wir zum Glück nicht kennen. So daß es womöglich ihr letzter Dorfsommer war. Ein Abend Ende Juni. Wo sie also, wenn wir wollen, am Zaun stand unter den Kirschbäumen im Schulgarten, die verbürgt sind ebenso wie der kleine Ententeich, dem sie den Rücken zukehrte. Die Frösche schwiegen noch. Er kam den Weg heruntergefahren, sie sah ihn von weitem, sie dachte vielleicht: Also kommt er doch, gerade heute. Oder sie dachtees nicht, sondern fühlte es. Sie reichte ihm ein paar Kirschen über den Zaun, als er scharf bremste und absprang. Weglohn, sagte sie, sah sich da am Zaun stehen und einem Mann Kirschen reichen, mußte lachen, denn solange man sich noch selbst dastehen sieht, so lange kann einem nichts passieren.
    Er hat aber die Kirschen

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