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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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gleich anzusprechen. Jetzt fiel mir auch die Frage ein, die diesem Augenblick angemessen war. Aber ich machte keinen Gebrauch von ihr – damals nicht, später nicht, und erst in meinem letzten Brief, den sie nicht mehr hat lesen können, habe ich sie angedeutet.
    Einstweilen mußten wir die Lücke für unser eigentliches Gespräch mit Mitteilungen ausfüllen. Wohin es sie verschlagen hatte, wohin mich. Als wunderten wir uns, schüttelten wir die Köpfe über die seltsamen Bahnen der letzten sechs Jahre, die sich doch mehrmals fast berührt hatten. Aber »fast« ist nicht »wirklich«, das wußten wir inzwischen, und fünfzig Kilometer oder fünfhundert können gleich viel bedeuten. Ums Leben verpaßt ist soviel wie um Haaresbreite, wir hatten es erfahren, aber wir taten doch, als könnte der eine Kilometer, der gefehlt hatte zu einem früheren Treffen, uns immer noch staunen machen. Taten, als wollten wir wirklich wissen, was aus allem geworden war, sagten aber nicht viel dazu, dadurch verrieten wir uns. Wenn sie vom Tod unserer Lehrerin nichts gewußt hatte, so erfuhrsie es jetzt. Ach, sagte Christa T. Schnell sahen wir uns an. Ein ferner Tod.
    So fragten wir uns unsere Erlebnisse ab, als ließen sich Schlüsse daraus ziehen. Dabei merkten wir: Wir gebrauchten und mieden die gleichen Wörter. In der gleichen Versammlung hatten wir auch eben noch gesessen, die gleichen Schriften mußten wir beide gelesen haben. Viele Wege gab es damals nicht für uns, keine große Auswahl an Gedanken, Hoffnungen und Zweifeln.
    Eines nur wollte ich wirklich wissen: War sie es noch, die in jedem beliebigen Augenblick, jetzt gleich, mitten auf der belebten Straße, unter den eiligen, schlechtgekleideten Leuten ihren Schrei ausstoßen konnte: Hooohaahooo ...? Oder sollte ich sie vergebens wiedergefunden haben? Manches andere konnten auch andere Leute, denen ich inzwischen begegnet war. Das konnte nur sie.
    Hatte ich Freude vermißt? Überraschung? Auf einmal kam Freude. Und sogar Überraschung traf ein, verspätet wie immer. Ein Wunder! Wenn es Wunder gab, war dies eins. Und wer sagt denn, daß wir nicht darauf gefaßt waren und ihm mit halben Sätzen ungebührlich begegneten? Wir standen an der Straßenbahnhaltestelle und begannen zu lachen. Alle die Tage, die auf einmal vor uns lagen! Wir sahen uns an und lachten, wie über einen gelungenen Streich, wie über ein ausgekochtes Schnippchen, das man jemandem gespielt hat, sich selbst vielleicht. Lachend trennten wir uns. Lachend stand sie und winkte mir nach, als ich abfuhr.
    Das Lachen könnte ja bleiben. Aber den Weg vom Kaufhaus zum Bahnhof müssen wir noch einmal gehen, unsandere Worte sagen, den Mut endlich finden, aus unseren halben Sätzen ganze zu machen, die Unschärfe aus unserer Rede tilgen, schade um die Zeit. Anders ansehen sollen wir uns auch und anderes sehen. Nur das Lachen am Schluß soll bleiben: weil alle die Tage vor uns liegen. Die ganze Zeit, die die Unschärfe wegnehmen wird, ob wir wollen oder nicht. Dann lieber schon wollen.
    Dann lieber schon einen Weg zweimal machen.
    Unschärfe? Das Wort mag befremden. Hat es doch den Jahren, von denen zu reden gewesen wäre, an Schärfe nicht gefehlt. Den Schnitt machen zwischen »uns« und »den anderen«, in voller Schärfe, endgültig: das war die Rettung. Und insgeheim wissen: Viel hat nicht gefehlt, und kein Schnitt hätte »das andere« von uns getrennt, weil wir selbst anders gewesen wären. Wie aber trennt man sich von sich selbst? Darüber sprachen wir nicht. Aber sie wußte es, Christa T., wie sie neben mir ging über die windigen Plätze, oder wir hatten uns nichts zu sagen. Der schnelle Blick, als wir über den Tod der Lehrerin sprachen – ein schwerer, ferner Tod –, bewies mir: Sie kannte diese Schuldlosigkeit aus Mangel an Erwachsensein.
    Hier soll auf unserem wiederholten Weg, bei unserem Wiedersehen Horst Binder zwischen uns auferstehen, der Sohn unseres Nachbarn, eines Eisenbahners. Sie, Christa T., kannte ihn auch, ich hatte ihn ihr gezeigt, wie er mich verbissen verfolgte, wohin ich auch ging. Ich war wütend, von einer solchen Eroberung hat man nichts, er war unheimlich, man konnte sich nicht mit ihm brüsten. Ich riß ihm die Tasche wieder aus der Hand, die er mir tragen wollte, ich haßte sein strähnigesHaar, das ihm in die Stirn fiel, und am meisten haßte ich seinen bedeutsamen, glühenden Blick. Ich wollte mit Christa T. über ihn lachen können, aber sie lachte auch nicht, mir schien, er tat ihr

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