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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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will nicht. Wirklich nicht. Fühle mich unfähig, zusätzlichen Ballast aufzunehmen. Der Tag, der nicht vergehen will, wiegt schwer genug.
    Die Masse meiner erinnerten Klänge, Bilder, Gerüche und Gedanken haben die Stundenbäuche zu doppelter Größe anschwellen lassen. Faul und träge fläzen sie im Zifferblatt, rühren sich nur, wenn’s unbedingt sein muss. Von Verrinnen kann keine Rede sein. Wann und ob die nächste Minute vom Zeigefinger der Uhr angestupst werden wird, weiß keiner. Der Verdacht, dass dies das wahre Gesicht der Zeit ist, drängt sich auf.
    Meine Eltern tauschen indessen verwunderte Bemerkungen über den plötzlichen Kälteeinbruch aus. Im Fenster biegen sich die Bäume. Es regnet. Spritzer schwimmen wie weiße Krönchen auf den Oberflächen dunkler Pfützen.
    Ich erinnere mich an den Schneegeruch, der meinen Gedanken bis ins Jetzt gefolgt ist.
    Angenommen, das Vergangene verginge niemals wirklich und jede gelebte Daseinssekunde bestünde parallel zum Jetzt, so wäre der Sprung von Zeit zu Zeit, von heute nach gestern, ein Leichtes. Die Distanzen zwischen Erlebtem und Erleben betrügen kaum noch Haaresbreiten. Unter diesen Voraussetzungen wäre es durchaus denkbar, Dinge von Zeit A nach Zeit B zu verfrachten. Dinge wie Schneegeruch.
    Das Vergangene vergeht niemals wirklich. Ließe sich damit nicht auch die unendliche Größe der Zeit erklären? Wenn nichts vergeht, verbrannt, verbraucht wird, setzt alles an. Ich denke an Jahresringe wie Rettungsringe. Speckgürtel über den Hüften der Zeit, die längst keine Wespentaille und keine Stundenglasfigur mehr hat. Erstaunlich, dass sie überhaupt noch vorwärtskommt. Gut möglich, dass Gott sie anschiebt.
    Gegen 23 Uhr zwinge ich mich ins Bett. Die Kälte im Zimmer macht mir Angst. Sowohl Bettdecke als auch die von meinem Hirn produzierte Bewusstseinsschicht, die mich von vergangenen Geschehnissen trennt, sind dünn. Viel zu dünn.
    Wie nah sind mir JasminCelineJustines Locken, ihre Briefe, ihre Panik und ihr Weinen im Wald tatsächlich? Das feuchte Laub, meine blutige Hand, ihr tränennasses Gesicht –
    Die Erinnerung ist jetzt ganz nah. Mit fest zusammengekniffenen Augen versuche ich, mich klein zu machen, keinen Finger und kein Bein abzuspreizen, bloß nichts zu streifen! Nur die Gedanken strampeln weiter.
    Heimtückisch rollt das Gewesene seine Bilderketten aus, legt Schlaufen und Schlingen, baut Fallen, in denen sich mein Denken verheddert, während das Dunkel diImpressume Knoten festzurrt.
    Verzweifelt bemühe ich mich um regelmäßige Atemzüge, hoffe auf Verdrängung, Vergessen und Ruhe.
    Bis mir klar wird, dass ich mich vor meiner eigenen Vergangenheit nicht schlafend stellen kann, vergehen Stunden.
    Eins, zwei – auf drei nehme ich all meinen Mut zusammen und stehe auf.
    65.
    Leises Klicken am Kopfende. Das Licht der Nachttischlampe zerschellt an der Bettkante. Im Hintergrund erscheinen die Silhouetten meiner Möbel.
    Ich stelle mich vor den Kleiderschrank und denke »Nussbaum«. Seit ich weiß, dass dieses hundertjährige, kastige Ding mit seinen Kugelfüßen, Sockeln, Simsen und Säulen aus diesem Holz gemacht ist, kann ich kein Kleidungsstück mehr herausnehmen, ohne an Nüsse denken zu müssen.
    Die Vorstellung, dass auch der Walnussbaum, der unten im Garten vor sich hin wächst, dereinst als Schranktür enden könnte, dass jemand sein Holz von Hand poliert und über Generationen hinweg weitervererbt, erscheint mir vollkommen absurd.
    Lächerlich, wie ich da unschlüssig vor dem urgroßmütterlichen Möbel herumstehe und vorgebe, über dessen Beschaffenheit und Herkunft nachzudenken ⁠…
    Was mich in Wirklichkeit davon abhält, den Schlüssel im Schloss zu drehen, ist meine Feigheit. Meine Angst vor dem, was sich unter den Kleidern versteckt; vor jenen hastig weggeschafften, jahrelang im Verborgenen ruhenden Beweisen, in denen ich zum ersten und letzten Mal nach Antworten auf meine Fragen suchen will.
    Es vergehen weitere Minuten. Meine eiskalten Füße verlangen eine Entscheidung.
    Um einem etwaigen Stimmungsumschwung zuvorzukommen, reiße ich voller Hast an den Schranktüren und stürze mich auf das unterste Fach, wo während der Sommermonate meine Wintersachen lagern. Unter den Stapeln aus Wolle, Gefüttertem und Gestricktem, verbirgt sich mein »Schrankkeller«, mein Tresor für alle Geheimnisse, egal, ob schön oder schändlich.
    Auch der Schuhkarton mit JasminCelineJustines Briefen verstaubt dort unten.
    Der Keller ist zu

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