Nachhinein
Braun, Erde an Braun, bitte kommen!«
Mein auf den Schulhof gerichteter Salzsäulen-Sehstrahl bröckelt und bricht unter meinem Blinzeln.
»Packst du heute noch zusammen, oder was? Wir verpassen den Bus!«
Der Ägypter hat recht. Ich raffe mich auf, sammle meine Sachen ein und folge seinem blonden Hinterkopf durch Gänge und Schultor.
Ein Rest Sonne klatscht mir ins Gesicht.
Aus Nordwest rasen Wolken heran. Kühler, feuchter Wind streift meine Arme, stellt Härchen auf, rüttelt mich wach. Ich versuche, mich an das Datum zu erinnern, das ich heute oben rechts in meine Hefte eingetragen habe. Irgendeine einstellige Zahl, dann Juni, dann 1996 …
Ich starre auf meine Füße, die sich sonderbar selbstverständlich Richtung Charlottenplatz bewegen. Die Schuhe, die ich trage, hätten mir damals nicht gepasst … Nach und nach entdecke ich eine ganze Reihe von Indizien, die eindeutig dafür sprechen, dass ich die nachmittägliche Geiselhaft im Bilderbunker meines Hirns überstanden habe. Und doch – es liegt etwas in der Luft, was so gar nicht zur frühsommerlichen Jetztzeit, in die mich der Ägypter zurückgewedelt hat, passen will: Es riecht nach Schnee.
Besteht die Möglichkeit, dass mich eine Jahreszeit, allen Gesetzen und festen Phasen zum Trotz, aus der Vergangenheit bis ins Heute begleitet hat? Die Wolkenwand, der aufbrausende Wind und sein eisiges Parfum – all das ist zweifelsohne real. Die Passanten mit ihren misstrauisch himmelwärts gerichteten Blicken, den aufgestellten Kragen und den in Taschen und Ärmeln verstecken Händen beweisen es.
Wir verpassen den Bus. Müssen warten. Während ich das Wartehäuschen umkreise, in dem der Ägypter bereits mit genervtem Seufzen auf einem der unbequemen Plastikschalensitze Platz genommen hat, bemerke ich mein zweites Mitbringsel: Offensichtlich ist es nicht nur dem Winter gelungen, sich an meine Fersen zu heften. Auch im Mund klebt was …
Vorsichtig drücke ich jahrealte Wortreste und Satzfetzen gegen den Gaumen. Ein bitterer, metallischer Geschmack breitet sich aus, und ich spüre meine Zunge unter dem giftigen Belag einstmals ausgesprochener Torheiten erlahmen. Die Erkenntnis, dass sich nichts von dem, was einmal ausgesprochen wurde, je zurücknehmen lässt, hängt wie ein Mühlstein an meinem Sprechmuskel. Schweigend setze ich mich ins orangefarbene Plastik und denke bekümmert an die vielen Hundert Wörter, die mir Tag für Tag aus dem Mund fallen: achtlose Aussagen, leichtsinnige Sätze. Eine Unmenge unbedachter Buchstabenreihen. Allesamt unwiderruflich.
Die Ägypterschulter an meiner Seite zu spüren, tut gut. Noch hat ihn keins meiner Wörter verprellt. Klar. Er versteht eben nicht nur, was ich sage, sondern auch, was ich sagen will. Verstohlen mustere ich sein Profil. So sieht er also aus, der Mensch, der mich und all meine Launen kennt, der stets gelassen bleibt und mir nichts verübelt.
Vielleicht müsste man, um ganz bei der Wahrheit zu bleiben, »gelassen« durch »verdammt zäh« ersetzen. Vielleicht sind es aber auch ganz andere Charaktereigenschaften, deren spezielle Kombination es ihm ermöglicht, mein Freund zu sein? Was immer es ist: Es lässt ihn hier sitzen. Alles andere spielt keine Rolle.
Ob er wohl ahnt, wie sehr seine Schulter mir in Stunden wie diesen beim Tragen meines Kopfes hilft?
Der Bus kommt.
63.
Wir kriechen um die Ecke am Getränkemarkt und biegen auf die Zielgerade ein, wo der Busfahrer noch mal Gas gibt. Schon erreichen wir den Rathausplatz. Als der Bus stoppt und seine Türen öffnet, überkommt mich ein sonderbares Gefühl, ein Schwanken zwischen Déjà-vu und Vorahnung. Verwirrt sendet meine Hirnzentrale einen bunten Impulsmix über die Nervenbahnen. Organe und Muskeln antworten wild durcheinander. Ängstliches Zittern, erwartungsvolles Pochen, nervöses Wippen – auf der Strecke vom Scheitel bis zur Sohle scheint jedes Körperteil mit einem Ereignis zu rechnen. Bezüglich der Frage, ob dieses Ereignis nun wünschenswert wäre oder nicht, sind sich die Glieder uneins, und weder Furcht noch Freude kommen als gemeinsamer Nenner in Frage.
Ich klettere aus dem Bus, stelle den Blick scharf, spähe nach allen Seiten, drehe mich einmal um die eigene Achse und sehe – nichts. Keine Locke weit und breit. Warum auch?
Verärgert über meine, mir plötzlich lächerlich und kindisch vorkommenden, Erwartungen marschiere ich los. Wut und Kälte machen mich schnell. Der Ägypter hat Mühe, Schritt zu halten.
Der
Weitere Kostenlose Bücher