Nachkriegskinder
schwieriger war es für ihn, die Prothese zu bewegen – das ist ja auch eine Kraftfrage. Später hatte er so große Schmerzen, dass er eine halbe Stunde brauchte, um die Prothese überhaupt anzulegen.« Er beginnt zu weinen, spricht aber weiter. »Mein Vater war für den Rest seines Lebens gequält, doch es war ihm kaum anzumerken. Durch ein aktives Leben hat er seine Belastungen von uns ferngehalten.«
|45| Der Vater vermittelte seinen Kindern Optimismus und den Wert planvollen Handelns, allerdings auch das Vertrauen, wonach das Leben ungeahnte Geschenke bereithält. Seine Einstellung: Man kann nicht alles planen. Man muss mit dem zurechtkommen, was sich gerade bietet. Gerade aus dem Unvorhergesehenen können sich Optionen entwickeln, an die man selbst nie gedacht hätte.
Wir sind so in unser Gespräch vertieft, dass uns erst, als der Kellner ungefragt die Rechnung bringt, auffällt, dass wir die letzten Gäste im Restaurant sind. Wir brechen auf. Hinter uns wird die Tür verschlossen. Auf der Straße erfahre ich in einer letzten Geschichte, wie Familie Best Urlaub machte. Der schwer behinderte Vater setzte mehr auf Abenteuer als auf Bequemlichkeit. Zusammen mit Frau und vier Kindern erkundete er Irland und Skandinavien ohne eine vorher festgelegte Route. Jede Nacht mussten für sechs Menschen Betten gefunden werden. Daraus ergaben sich großartige, frustrierende und kuriose Erlebnisse. Martin Best wird noch seinen Enkeln davon erzählen.
Alles im allem war Harald Best ein guter Vater. Ohne dessen Vorbild hätte sein Sohn eine freiberufliche Existenz als Therapeut vermutlich nicht riskiert und daher nie erfahren, dass er vom Vater nicht nur die Kreativität, sondern auch den Geschäftssinn vererbt bekam.
Wochen später, beim Verschriften unseres Gesprächs, bestätigte sich für mich der Eindruck, dass wir dem Vater mehr Gewicht gegeben haben als dem Sohn, und ich dachte: Man ist einfach tief davon beeindruckt, wie dieser Mann bei allen Einschränkungen sein Leben meisterte, und es dürfte für seinen Sohn nicht leicht gewesen sein, aus dem Schatten des Vaters herauszutreten.
|46| »Im Westen nichts Neues«
Harald Best zog neunzehnjährig in den Krieg, genau wie Paul Bäumer, die Hauptfigur des Romans »Im Westen nichts Neues« von Erich Maria Remarque. »Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute, wir sind roh und traurig und oberflächlich – ich glaube, wir sind verloren.« 4 So beschreibt der Schriftsteller seine Generation, die in den Schützengräben die Hölle des Ersten Weltkriegs erfuhr. Bei einem Heimaturlaub findet sich Bäumer nicht mehr zurecht. Mit Menschen, die ihm vertraut sein müssten, kann er nichts mehr anfangen. Er registriert ein »fürchterliches Gefühl der Fremdheit« 5 . Von der Front erzählt der Neunzehnjährige wenig und schon gar nicht die Wahrheit. Lange schiebt er den Besuch bei der Mutter eines gefallenen Mitschülers auf, doch als sich sein Urlaub dem Ende zuneigt, kann er der Begegnung nicht länger ausweichen.
Man kann das nicht niederschreiben. Diese bebende, schluchzende Frau, die mich schüttelt und mich anschreit: »Weshalb lebst du denn, wenn er tot ist!«, die mich mit Tränen überströmt und ruft: »Weshalb seid Ihr überhaupt da, Kinder, wie ihr – «, die in einen Stuhl sinkt und weint: »Hast du ihn gesehen? Wie starb er?«
Ich sage, dass er einen Schuss ins Herz erhalten hat und gleich tot war. Sie sieht mich an, sie zweifelt: »Du lügst. Ich weiß es besser. Ich habe gefühlt, wie schwer er gestorben ist. Ich habe seine Stimme gehört, seine Angst habe ich nachts gespürt, – sag die Wahrheit, ich will es wissen, ich muss es wissen.«
»Nein«, sage ich. »Ich war neben ihm. Er war sofort tot.«
Sie bittet mich leise: »Sag es mir. Du musst es. Ich weiß, du willst mich damit trösten, aber siehst du nicht, dass du mich damit schlimmer quälst, als wenn du die Wahrheit sagst? Ich kann die Ungewissheit nicht ertragen, sag mir, |47| wie es war, und wenn es noch so furchtbar ist. Es ist immer noch besser, als was ich sonst denken muss.«
Ich werde es nie sagen, eher kann sie aus mir Hackfleisch machen. Ich bemitleide sie, aber sie kommt mir auch ein wenig dumm vor. Sie soll sich doch zufrieden geben, Kemmerich bleibt tot, ob sie es weiß oder nicht. Wenn man so viele Tote gesehen hat, kann man soviel Schmerz um einen einzigen nicht mehr recht begreifen. So sage ich etwas ungeduldig: »Er war sofort tot. Er hat es gar nicht gefühlt.
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