Nachrichten an Paul
Apfelsine schälen. Das Essen ist sogar ganz gut. Ich sage, iss doch was. Aber Jan sagt: Mir ist nicht nach Essen. Aber du musst was essen, sage ich, und es sieht doch lecker aus. Dann iss du´s doch, sagt Jan. Ich habe schon in der Ärztekantine gegessen, sage ich. Das hier ist für dich.
Nach der Chemo dann noch der Besuch beim Arzt. Zurück durch all die Gänge und wieder Warten. So viele Leute, die so geduldig warten. Es ist eine nette Ärztin, sie ist auch wirklich gut, sie nimmt sich für jeden Zeit, das erfordert Geduld. Von uns allen. Von ihr, von den Patienten, von den Begleitpersonen.
Ach Paul – und da kommst du mir mit Geduld beim Skypen. Nein. Ich habe keine Geduld mehr. Alle meine Geduld ist aufgebraucht in Warten und Hoffnung. Weißt du, wie viel Geduld nötig ist, um auf den Tod zu warten? Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn du weißt, dass der andere nicht mehr lange da sein wird? Jetzt plötzlich möchtest du, dass die Minuten sich ziehen, nicht wahr? Noch ein bisschen länger soll jetzt alles sein. Die Zeit verliert jede Kontur, sie existiert nicht mehr, du bist einfach da, an seiner Seite, und es gibt nicht mehr viel zu reden, weil alles was besprochen werden musste, besprochen worden ist, immerhin, das haben wir richtig gemacht. Und du weißt, was bis jetzt nicht gesagt worden ist, das muss vielleicht nicht mehr gesagt werden. Und es ist auch gut, denn man kann gar nicht mehr viel reden, Jan nicht, weil er keine Luft bekommt und jede Bewegung mühsam ist, und ich nicht, weil mir die Tränen den Hals zudrücken. Solange wir zu Hause sind, liege ich einfach viel auf dem Bett neben ihm. Es gibt nichts mehr anderes zu tun. Einfach in Geduld da sein. Später im Krankenhaus sitze ich neben dem Bett. Ich halte seine Hand. Unsere Vergangenheit umgibt uns, die Gegenwart verschwimmt und eine Zukunft wird es nicht mehr geben. Und da kommst du mir und verlangst von mir Geduld.
Oha - ich sehe ein, da habe ich mich jetzt hereingesteigert, das kann ich Paul nicht schicken, das hat er ja auch nicht so gemeint, das kann er natürlich nicht wissen, und natürlich schicke ich das nicht ab. Auf keinen Fall schicke ich das ab. Das geht überhaupt nicht. Ich schreibe eine neue Nachricht, eine kleine, neue, harmlose Nachricht, eine, die man abschicken kann.
Hi Paul – kein Problem – ab Oktober bin ich wieder in deiner Zeitzone, dann können wir ja skypen – beijinhos Anna
Pauls Antwort kommt praktisch postwendend.
Hi Anna – so war das nicht gemeint – big hugs Paul
Und dann sogar noch eine zweite Nachricht, ein Foto, zwei Enten im Hafen, am Boot. Das sind die Enten von Granville Island, ich fand sie so süß damals, aber ich konnte kein Foto machen, weil die Batterie der Kamera leer war.
Mit anderen Worten, jetzt ist eine Antwort da, und der Scheißball ist wieder bei mir in meinem Feld, und ich muss mir jetzt was Nettes anziehen, weil ja gleich Miguel kommt und wir essen gehen.
*
Am nächsten Morgen sehe ich mir doch glatt das blöde Entenfoto zum fünften Mal auf Facebook an, statt die Übersetzung zu machen, die meinen Kühlschrank füllt. Indirekt. Das Wörterbuch liegt aufgeschlagen neben mir, ich bastel an Vokabeln wie Schnittstelle, Verkabelung, Erdung und Elektrozubehör. Von außen sieht es so aus, als ob ich arbeite, aber die Wahrheit ist: Auf dem Bildschirm ist schon wieder das Entenfoto. Ehrlich gesagt, jetzt beim genauen Hingucken finde ich, es ist gar kein richtiges Foto, es ist eher ein Drudel. Eine von diesen Zeichnungen, die glaube ich aus der Mode gekommen sind, und wo man einen ungewöhnlichen Ausschnitt von irgendwas sieht und raten muss, was es denn um Gottes Willen sein soll.
Der Entendrudel zeigt eine Ecke von einem Boot und zwei Enten. Oder besser: anderthalb Enten, denn die eine hat keinen Kopf. Und beim noch genaueren Hinsehen stelle ich fest: Das Weibchen hat keinen Kopf.
Mit anderen Worten, Paul schickt mir ein Entenfoto – weiß er, was Enten für mich bedeuten? Sie bedeuten Paare und Treue, ich denke, hoffe und flehe, er weiß es nicht – wo das Weibchen kopflos ist. Und in der Tat, das hat er gut getroffen. Denn das bin ich doch gewissermaßen und allemal Paul gegenüber. Kopflos. Ich beschließe den Entendrudel zu ignorieren, aber kann nicht verhindern, dass meine Finger eine Antwort in die Facebook-Seite tippen.
Hi Paul, nettes Foto, süße Enten. Allerdings die eine hat keinen Kopf ... mmhh ...
Und wutsch ist die Nachricht losgeschickt und ich habe
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