Nacht in Havanna
halten. Aber sie schickt das hier.« Erasmo zog die Handschuhe aus, griff in seinen Parka und zog ein Farbfoto von Ofelia aus der Tasche. Sie trug einen orangefarbenen Bikini und posierte zusammen mit ihren beiden Töchtern und einem gutaussehenden Mann mit hellbrauner Haut am Strand. Die Mädchen blickten bewundernd zu ihm auf und hielten stolz seine Hände. Über seiner Schulter hing eine Conga. In seinem Gesicht stand ein halb zerknirschtes, halb selbstzufriedenes Grinsen. Im Hintergrund hockte Ofelias Mutter auf einem Handtuch. »Wessen Vater?« fragte Arkadi. »Von dem kleineren Mädchen.«
Das Foto wirkte in keiner Weise gezwungen oder gestellt. Arkadi konnte außer den üblichen innerfamiliären Spannungen keine ominösen Schatten oder Anzeichen von Angst oder Sorge ausmachen, doch Ofelia schien vollkommen getrennt von den anderen. Ihr Haar war feucht und in tintenschwarzen Wellen nach hinten gekämmt. Ihre Miene sagte, ja, so ist die Situation, aber die Intensität ihrer Augen hatte nichts mit irgend jemandem auf dem Bild zu tun. Es schien, als würde sie nicht aus dem Foto heraus-, sondern durch es hindurchblicken. Auf der Rückseite stand nichts geschrieben. »Sie wirken ja nicht besonders bewegt«, meinte Erasmo. »Sollte ich?«
»Ja, ich denke schon. Ich wollte Ihnen sagen, daß die Dinge für die Criminalista alles in allem recht gut ausgegangen sind.«
»Ja, sie sehen glücklich aus.«
»Soweit würde ich nicht gehen. Aber wie dem auch sei, Sie können das Foto behalten. Das ist der Grund, warum ich Ihnen in diesem Schneesturm gefolgt bin. Ich wollte Ihnen das nur geben.«
»Danke.« Arkadi zog den Reißverschluß seines Parkas auf, um das Foto in seiner Innentasche zu verstauen, ohne es zu knicken. Erasmo blies in die Hände, bevor er seine Handschuhe wieder anzog. Er sah mit einem Mal ziemlich elend aus. »Kalte Menschen für ein kaltes Klima, kann ich nur sagen.« Der Schnee auf seinen Augenbrauen und unter seiner Nase fing an zu klumpen. Er wendete seinen Rollstuhl und winkte Arkadi halbherzig zu. »Ich finde den Weg zurück.«
»Folgen Sie einfach dem Fluß.«
Auf dem Rückweg hatte Erasmo Gegenwind. Er stemmte sich gegen die Böen und kämpfte sich vorwärts, ungeachtet des entgegenkommenden Stroms von Autoscheinwerfern, wobei seine Räder auf dem matschigen Schnee immer wieder durchdrehten, was einen Mann, der wußte, wo ein warmes Zimmer auf ihn wartete, jedoch nicht aufhalten konnte.
Arkadis Wohnung lag in der entgegengesetzten Richtung. Autoscheinwerfer fächerten seinen eigenen Schatten vor ihm auf. Lkw holperten dickfellig durch Schlaglöcher. Im richtigen Winter bildeten die Lichter, die sich in dem zugefrorenen Fluß spiegelten, einen erleuchteten Pfad durch die Stadt, aber Schnee so spät im Jahr zerrann nur zu Fäden schwarzen Wassers. Verkehrspolizisten wateten zwischen Wagen umher und winkten einen glücklosen Fahrer an den Rand, dessen Autobeleuchtung für ungenügend erachtet wurde, bis Dollar, nicht Rubel, den Besitzer gewechselt hatten. Es war die Art Abend, an dem jedes einzelne Fenster aussah wie ein Schiff in tückischer See. Der Kreml lag außer Sichtweite, doch man konnte am Himmel sein scheiterhaufenartiges Leuchten ausmachen. Schnee konturierte Laternenmasten, Gullys und Fensterbänke; er legte sich auf Lkw-Planen, Außenspiegel und Mantelkragen, die die Leute hochgeschlagen hatten, schmolz an den Handgelenken und im Nacken und tanzte in Flocken von Ufermauer zu Ufermauer. Er krönte die Bäume im Park weiß und machte jeden Schritt zu einer sichtbaren Erinnerung, um sie gleich darauf wieder zuzudecken.
ENDE
[erstellt mit plustek OpticBook 4600 und Atlantis Word Processor]
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