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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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muss einen Zusammenhang geben.
    Ruhen Sie sich ein wenig aus.
    Wovon ausruhen? Etwas ist geschehen. Gillian umkreist die Erinnerung, sie nähert sich ihr und weicht dann wieder zurück. Wenn sie die Hand ausstreckt, verschwinden die Bilder, und das blaue Wasser taucht auf, immer wieder das blaue Wasser und das leere Haus, ihre erste Bühne. Aber das andere ist die ganze Zeit da und wartet auf sie. Sie weiß, es gibt einen Ausweg, und sie wird ihn nehmen. Später.

    Der Arzt zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich auf die Lehne. Er hielt einen kleinen, in rosa Plastik eingefassten Spiegel in der Hand, ein Spielzeug. Er fragte, wie es ihr gehe.
    Besser, sagte Gillian. Ich bin wieder da.
    Zum ersten Mal konnte sie sich erinnern.
    Zwei Tage, sagte er, als sie ihn fragte, wie lange sie schon hier sei. Einen Monat, ein Jahr, es hätte sie nicht gewundert.
    Wir mussten ihnen ein starkes Schmerzmittel geben.
    Das war kein schlechter Trip, sagte Gillian und versuchte zu lachen.
    Als sie die Hand hob, hielt der Arzt sie fest mit einer schnellen, aber sanften Bewegung. Nicht, sagte er, Sie sollten die Stelle nicht berühren.
    Er fing an, ihr Gesicht zu beschreiben wie einen Gegenstand, es war eine sachliche Bestandsaufnahme, aber Gillian begriff nicht ganz, was er sagte. Dann beschrieb er ihr die Vorgehensweise, die Operationen, die nötig sein würden.
    In einem halben Jahr wird man kaum noch etwas sehen.
    Etwas sehen wovon?, fragte Gillian.
    Ein Ohr können wir leicht replantieren, sagte der Arzt, aber die Nase hat zu viele feine Gefäße. Wir werden ihnen eine neue machen.
    Das sieht im Moment nicht sehr schön aus, sagte er, aber ich glaube, es ist gut, wenn Sie es sich anschauen.
    Gillian schloss die Augen, öffnete sie wieder und streckte die Hand aus. Der Arzt reichte ihr den Spiegel. Sie drehte ihn hin und her wie eine Waffe, von der sie nicht wusste, wie sie zu bedienen war. Sie sah das Fenster, die vielen Blumensträuße, die im Zimmer standen, die Tür und das Gesicht des Arztes. Er lächelte und stellte eine Frage, aber sie hörte nicht hin, bewegte immer noch den Spiegel, als suchte sie den richtigen Ausschnitt, und ließ ihn dann sinken.
    Ist es schlimm?
    Er nickte und sagte noch einmal, in einem halben Jahr. Jemand, der Sie nicht kennt, wird kaum etwas merken.
    Und jemand der mich kennt?
    Wir versuchen, es so ähnlich wie möglich hinzukriegen, Bilder gibt es ja genug von Ihnen. Sie werden staunen, sagte er. Die plastische Chirurgie hat große Fortschritte gemacht.
    Warum kann ich den Kaffee riechen, wenn ich keine Nase mehr habe?
    Die Riechzellen sind hier, sagte der Arzt und zeigte auf seine Nasenwurzel. Er stand auf. Soll ich ihnen den Spiegel hierlassen?
    Nein, sagte sie, und dann ja.
    Als der Arzt gegangen war, hob Gillian den Spiegel mit einer schnellen Bewegung hoch und hielt ihn sich dicht vor das Gesicht, als wolle sie sich dahinter verstecken.

    Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie es ihr gesagt hatten. Vielleicht hatten sie es ihr gar nicht gesagt, vielleicht wusste sie es einfach. Oder sie ahnte es nur, dass Matthias tot war. Es war still, nur der Wind war zu hören, der durch die Bäume wehte, das Tropfen von Wasser und ein unregelmäßiges Knacken, wie wenn verbogenes Metall sich langsam entspannte. Das Licht ging an und aus, orangefarbenes Licht. Gillian fühlte keinen Schmerz, sie merkte nur, dass ihr Gesicht nass war. Im Mund hatte sie den metallischen Geschmack von Blut. Sie hatte den Kopf nicht drehen können, aber aus den Augenwinkeln hatte sie Matthias gesehen, der über das Lenkrad gebeugt lag, als wäre er vor Erschöpfung eingeschlafen. Er bewegte sich nicht, er tauchte auf, verschwand, tauchte auf, verschwand. Sein Gesicht wirkte dunkel selbst im Licht, gerötet wie das eines Alkoholikers. Wenn sie nur das Blinklicht hätte ausschalten können, dann wäre alles gut gewesen, dann hätte sie schlafen können. Aber sie konnte sich nicht bewegen. Und dann, langsam, entstand der Schmerz, im Brustbereich, in den Beinen, im Gesicht. Es war, als hätte sie ihr Gesicht nie vorher gespürt, es zog sich im Schmerz zusammen wie eine Hand zur Faust. Matthias war tot. Was sollte sie mit all seinen Sachen machen? Wie seiner Familie begegnen, seinen Freunden? Sie dachte an die Lebensmittel im Kühlschrank, die langsam verdarben, die Topfpflanzen, die austrockneten. Dann war sie sich plötzlich sicher, Matthias war nicht tot. Es ist nicht möglich, dachte sie, und der Gedanke war so erleichternd,

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