Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
jemanden mit einem anderen Gesicht geben würde, jemand, der sie sein würde. Aber mit dieser Person verband sie ebenso wenig, wie mit der Person, die sie vor dem Unfall gewesen war. In der Schauspielschule hatten sie Gesichter nachgeahmt und Körperhaltungen ausprobiert, und dadurch war eine Art Echo des dargestellten Gefühls entstanden. Man zog die Mundwinkel nach unten und empfand eine schwache, unbestimmte Trauer, man zog sie nach oben, und sofort hellte sich die Stimmung auf. Jetzt, ohne Gesicht, gelang ihr das nicht mehr. Alle Empfindungen, Erleichterung, Wut, Trauer, waren nur Möglichkeiten, die sich nicht realisieren ließen. Selbst die Gesichter der anderen, jene der Krankenschwestern und die Gesichter, die sie in Zeitschriften sah, wirkten fratzenhaft und unlesbar.
Am Abend hängte Gillians Vater seinen Mantel auf und blieb unschlüssig neben der Tür stehen. Dann kam er zu ihr ans Bett. Er schaute sie an, ohne ein Wort zu sagen, hielt sich am Bettgestell fest und ließ sich zögernd auf den Stuhl sinken, der neben dem Bett stand. Während sie redeten, schaute er sie nicht an, er nahm ihre Hand in seine. Er sprach leiser und zögerlicher als bei seinen letzten Besuchen und blieb nur eine Viertelstunde.
Nachdem er gegangen war, rief Gillian ihre Schwiegermutter an. Sie musste lange klingeln lassen. Endlich meldete sich Margrit mit atemloser Stimme. Als sie hörte, wer es war, verstummte sie.
Es tut mir leid, sagte Gillian.
Du kannst nichts dafür, sagte Margrit.
Dann erzählte sie von Matthias’ Beerdigung, die schön gewesen sei, und wollte von Gillian hören, dass sie einverstanden war mit der Musik und mit dem Restaurant, in das die Trauergemeinde gegangen war, und mit dem Text der Todesanzeige, den sie ihr vorlas. Sie zählte auf, wer alles zur Beerdigung gekommen war.
Es ist gut, unterbrach Gillian sie, du hast bestimmt alles richtig gemacht.
Es ist schade, dass du nicht dabei sein konntest, sagte Margrit.
Ja, sagte Gillian. Ich besuche das Grab, sobald ich aus dem Krankenhaus komme.
Sie verstand sich mit Margrit besser als mit ihrer eigenen Mutter. Sie redeten noch eine Weile, dann sagte Gillian, sie sei müde.
Du kannst jederzeit anrufen, sagte Margrit.
Gillian fragte sich, was Margrit, was ihre Eltern sagen würden, wenn sie die Fotos sehen würden. Einen Moment lang befürchtete sie, dass ihre Mutter die Bilder gefunden haben könnte, als sie in der Wohnung war, aber dann fiel ihr ein, dass sie den Umschlag in ihrem Schreibtisch verstaut hatte. Sie hatte sich die Bilder nicht angeschaut. Sie waren der Beweis für einen Abend, den sie am liebsten vergessen hätte. Sie erinnerte sich an die Scham, die sie empfunden hatte und an ihre Flucht. Wie in Trance hatte sie sich angezogen. Hubert stand an der offenen Tür. Zum ersten Mal an diesem Abend schaute er sie richtig an. Sie packte den Film, der immer noch auf dem Tisch lag. Dann ging sie, ohne dass noch einer von ihnen ein Wort gesagt hätte. Sie lief zur Bahnstation. Auf dem Bahnsteig stand ein einzelner Mann. Er schaute sie an, als wäre sie immer noch nackt, und sie merkte, dass sie es nicht aushalten würde, in einem Zug oder einer Straßenbahn zu sitzen. Sie ging die Straße entlang in Richtung Innenstadt, erst durchs Industriegebiet, dann durch Wohnviertel, in denen sie noch nie gewesen war. Überall waren verkleidete Kinder unterwegs, die in kleinen Gruppen von Haus zu Haus zogen. Erstaunlich still waren sie. Manche wurden von Erwachsenen begleitet, die in einigem Abstand stehen blieben, wenn die Kinder an Türen klingelten und um Süßigkeiten bettelten. Gillian brauchte über eine Stunde, bis sie zu Hause die Tür hinter sich abschloss. Sie war froh, dass Matthias noch nicht da war. Sie hätte den Film dem Licht aussetzen und ihn zerstören können, aber sie hatte das absurde Gefühl, dadurch würden die Bilder entkommen. Sie verstaute ihn in ihrem Schreibtisch. Dann nahm sie ein heißes Bad und tauchte ganz im Wasser unter.
Matthias kam heim, während Gillian noch in der Badewanne lag. Sie hörte die Tür ins Schloss fallen, kurz darauf kam er ins Bad und setzte sich auf den Rand der Wanne. Er spielte mit den letzten Resten Schaum, die auf dem Wasser trieben. Gillian hoffte, dass er sie allein lassen würde, aber er fing an von einer Redaktionssitzung zu erzählen. Sie hörte nicht zu. Sie beugte sich aus der Wanne und griff nach ihrem Bademantel. Matthias nahm ihn und hielt ihn für sie auf. Sie stand auf und drehte ihm
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