Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
dass sie fast lachen musste. Es ist ja gar nicht möglich.
Als Gillian erwachte, stand ihr Vater am Bett, neben ihm der Arzt. Sie redeten leise. Gillian hörte nicht hin. Sie schloss die Augen und sah wieder das Loch in ihrem Gesicht, durch das sie in ihr Inneres gesehen hatte. Sie versuchte, die Hände zu heben, um sich zu verbergen, zu schützen. Die Bettdecke drückte auf ihre Brust, sie konnte kaum die Finger bewegen. Plötzlich fiel ihr auch das Atmen schwer. Sie öffnete die Augen. Die beiden Männer standen immer noch da. Sie schwiegen jetzt und schauten auf sie herunter, in sie hinein. Gillian schaffte es nicht, die Blicke aufzuhalten, zu erwidern oder abzuwenden. Sie schloss die Augen, rannte davon, floh in den verborgensten Winkel. Ein sinnloses Spiel, ein Reigen, ein Kinderlied mit unendlich vielen Strophen. Dann hörte sie ihren Vornamen, der Arzt hatte ihn ausgesprochen. Als sie zu ihm hochschaute, traf ihr Blick jenen des Vaters. Der Vater wandte sich ab.
Wie geht es Ihnen?
Sie sagte nichts. Sie durfte sich nicht verraten. Sie hatte sich versteckt, wenn sie sich nicht rührte, konnten sie sie nicht finden. Stundenlang konnte sie ausharren in ihrem Versteck, im Kleiderschrank oder hinter dem Sofa, auf dem Dachboden, bis sie merkte, dass niemand sie suchte. Dann schlich sie langsam zurück, zeigte sich immer offener, aber es war so, als wäre sie durch das lange Verbergen unsichtbar geworden. Die Eltern schauten durch sie hindurch. Welche Erleichterung, wenn sie eine Viertelstunde lang in der Küchentür gestanden hatte und die Mutter ihr endlich befahl, den Tisch zu decken, als sei nichts geschehen. Sie hörte die Tür aufgehen und sah, wie der Vater den Raum verließ. Der Arzt folgte ihm.
Etwas war zerbrochen. Gillian erinnerte sich an die Verzweiflung, mit der sie die Teile aneinandergehalten hatte, als müssten sie wieder zusammenwachsen. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie in jenes Autowrack gekommen war. Nur an die Schwerelosigkeit erinnerte sie sich. Plötzlich war ihr bewusst geworden, dass die Zeit eine Richtung hatte, dass sie unumkehrbar war. Ihre erste Erinnerung war dieses Gefühl, nichts mehr tun zu können, alle Kraft, alles Gewicht zu verlieren. Es war, als habe das Bewusstsein den Körper schon verlassen, der sich schwebend und mit großer Geschwindigkeit durch den Raum bewegte, gegen etwas prallte, zurückgeworfen wurde, wieder aufprallte in einem lächerlichen Hin und Her.
Gillian hatte immer gewusst, dass sie in Gefahr war, dass sie irgendwann bezahlen musste für alles. Jetzt hatte sie bezahlt. Als der Arzt sie nach ihren Erinnerungen gefragt hatte, hatte sie nur langsam den Kopf hin und her bewegt. Es war kein Kopfschütteln, sie suchte an den weißen Wänden nach ihren Erinnerungen. Aber die Bilder, die sie sah, hatten nichts mit ihr zu tun. Ihr Job, ihre Eltern, Matthias gehörten zu einem anderen Leben.
Es ist alles noch da, sagte sie, nur ich bin weg.
Die sorgfältigen Bewegungen der Schwester, ihr konzentriertes Lächeln.
Sie sagen, wenn es weh tut.
Der Schmerz bestand aus kleinen Ereignissen, die dicht vor ihrem Gesicht stattfanden, ein Feuerwerk von Stichen, die Gillian nicht mit sich in Verbindung brachte. Der Körper reagierte darauf, zuckte zusammen oder versuchte reflexartig, sich zu entziehen. Die Schwester entschuldigte sich, ihre Stimme klang ungeduldig. Gillian hatte nicht vor, sich für diesen Körper zu entschuldigen, der nur ein Erbstück war. Sie war eine dritte Partei, war eben erst hier eingezogen. Wenn jemand kam, öffnete sie die Tür und ließ ihn ein. Sie beobachtete den Besucher, versuchte in seinen Blicken zu lesen, was er von diesem Haus hielt. Sie freute sich, wenn er seine Bewunderung ausdrückte. Ja, nicht wahr, es ist schön hier. Es ist noch viel zu tun. Sie lachte. Die Schwester erklärte ihr, was sie tat, aber Gillian hörte nicht zu. Sie versuchte, den Schmerz mit ihrem Gesicht in Deckung zu bringen, ihn zu einem Bild zu formen, aber es gelang ihr nicht. Das Bild war unvollständig, die Proportionen stimmten nicht.
Wir sind gleich fertig, sagte die Schwester. So, das ging doch ganz gut.
Sie verließ das Zimmer. Auf dem Nachttisch lag der Spiegel. Gillian dachte an den Spiegel, nicht an das Gesicht. Der Spiegel war das Gesicht, das sie vor sich halten konnte. Sie streckte die Hand aus, zögerte, wartete noch ein wenig, nahm ihn dann doch. Sie spielte damit, hielt ihn sich umgekehrt vor die Augen und betrachtete die glänzende
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