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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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Art freudige Erwartung. Sie musste an Schulausflüge denken. Die Klasse versammelte sich auf dem Bahnhof, einer nach dem anderen stieß zur Gruppe. Man grüßte sich kurz, sonst wurde nicht viel geredet. Der Chirurg sagte etwas, ganz leise. Jemand unterdrückte ein Lachen. Die Bewegungen schienen noch zufällig, jeder machte irgendetwas, man versuchte, dem anderen nicht im Weg zu sein. Der Anästhesist erklärte Gillian, was er vorhatte. Sie wusste nicht, was er von ihr erwartete. Die grünen Gestalten verschwanden eine nach der anderen, und einen Moment lang glaubte Gillian schon, sie wäre hier vergessen worden. Im selben Moment kam es ihr vor, als würden ihre Beine hochgehoben, als würde sie in eine dunkle Röhre geschoben und losgelassen werden. Sie glitt durch das Dunkel, hinunter, immer schneller, Lichter sausten vorüber, die Geräusche waren plötzlich sehr nah, ein heller Glockenton, eine Stimme bis zur Unverständlichkeit verlangsamt und von Echos begleitet. Dann wurde es sehr hell. Sie spürte eine Hand, die sanft ihre Schulter berührte. Wieder das freundliche Gesicht. Gillians Magen krampfte sich zusammen. Sie spürte Hände, die sie hochhoben, ein Rütteln, hörte metallische Geräusche. Lampen zogen über ihr vorbei. Das Atmen fiel ihr schwer. Ihre Nase war verstopft. Sie hatte wieder eine Nase.

    In der Nacht nach der Operation hatte Gillian Albträume. Am Morgen wusste sie nicht mehr, was sie geträumt hatte, aber sie spürte die nächtlichen Landschaften, durch die sich unsichtbare Menschen bewegten, die nicht miteinander sprachen, aber auf geheimnisvolle Weise miteinander in Verbindung standen. Öffnete man eine Tür, schien im selben Moment der Raum dahinter zu entstehen, wandte man sich ab, zerfiel er.
    Der Spiegel lag nicht da, wo sie ihn hingetan hatte. Der Arzt hielt ihn in der Hand, als er ins Zimmer trat. Er erklärte ihr noch einmal genau, was er gemacht hatte, wie er ihr Knorpel im Rippenbereich entnommen und daraus eine Nase geformt habe und wie er einen Hautlappen von der Stirn heruntergeschlagen und die neue Nase damit bedeckt habe.
    Das sieht jetzt nicht sehr schön aus, sagte er. Sie können sich vielleicht nicht vorstellen, wie das alles verheilen soll, aber ich versichere Ihnen …
    Sie sagte, schlimmer als vorher könne es nicht sein.
    Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen, sagte er.
    Warum mit mir? Ich habe nichts gemacht.
    Sie sind tapfer gewesen.
    Es kam Gillian vor, als wollte er Zeit gewinnen. Sie streckte die Hand aus. Der Arzt nickte ihr zu und legte den Spiegel vor ihr auf die Bettdecke.
    In drei Wochen sollte die Haut so weit angewachsen sein, dass wir die Verbindung zur Stirn durchtrennen können, dann sieht es gleich viel besser aus. Und in drei Monaten kommen Sie noch mal zu uns. Jetzt bleiben Sie erst mal noch ein paar Tage hier. Nach der zweiten Operation können Sie dann im Prinzip wieder arbeiten. Gibt es jemand, der sich um Sie kümmert?
    Nein, sagte Gillian und dann, aus einem Impuls heraus: Doch, das ist kein Problem.
    Der Arzt zuckte mit den Schultern. Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird alles gut werden.
    Das Atmen fiel Gillian immer noch schwer. Wenn sie mit der Zungenspitze ihre Oberlippe berührte, schmeckte sie Blut und spürte die trockene Gaze. Der Arzt ging. Vorsichtig nahm sie den Spiegel von der Bettdecke.

    Vor dem Mittagessen rief sie ihren Vater im Büro an. Vermutlich war jemand bei ihm, jemand aus der Werkstatt oder ein Kunde. Er sprach leise und sie merkte, dass er das Gespräch möglichst schnell beenden wollte.
    Ich hatte vor, dich zu besuchen, sagte er, ich komme nach der Arbeit kurz vorbei.
    Lieber nicht, sagte sie.
    Wirklich?, fragte er unkonzentriert. Hast du alles, was du brauchst?
    Ich brauche nichts, sagte Gillian, nur Ruhe. Du musst mich nicht besuchen.
    Ich habe viel zu tun, sagte er, vor den Ferien wollen alle noch irgendwas von mir.
    Jetzt sieht es noch schlimmer aus, sagte Gillian und musste plötzlich weinen.
    Der Vater schien es nicht zu bemerken, er sagte nur, das sei Teil der Heilung, der Arzt habe ihm Bilder gezeigt von den verschiedenen Arbeitsschritten.
    Das ist nicht wie bei deinen Autos, sagte Gillian, wo man alles wieder irgendwie zusammenflicken kann.
    Hast du eine Ahnung, sagte der Vater. Geht es dir gut?
    Sie musste lachen. Ja, es geht mir gut.
    Ich komme auf einen Sprung vorbei heute Abend, sagte er und legte auf.
    Die Aussicht auf seinen Besuch machte Gillian unruhig. Es war vorstellbar, dass es irgendwann wieder

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