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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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umarmten und küssten sich, dann setzte Jill sich auf Hubert und zog sich das Hemd über den Kopf. Es war seltsam, sich auf der Bühne zu lieben. Jill schloss die Augen und bewegte sich langsam. Hubert lag jetzt ganz still. Als sie einmal kurz die Augen öffnete, sah sie, wie er sie mit staunendem Blick betrachtete.

    Gillian war siebzehn. Sie stand am Fenster des Ferienhauses und stützte sich mit den Unterarmen auf den rauen Holzsims und schaute in den Himmel. Die Nacht war voller Geräusche und Gerüche. Sie war verliebt, sie war damals schnell verliebt, Kleinigkeiten genügten, die schönsten Träume zu entfachen und wieder auszulöschen. Jede ihrer Wahrnehmungen verwandelte sich sofort in ein Gefühl.
    Sie schloss das Fenster und stieg die Treppe hinunter. Die Haustür war abgeschlossen, aber von innen ließ sie sich ohne Schlüssel öffnen. Es war kühl draußen. Sie war barfuß und trug keine Jacke, sie fror, aber das gehörte dazu. Sie ging die Straße entlang in Richtung des Flusses, jederzeit bereit, sich im Gras zu verbergen, wenn ein Auto kam. Nach einer Weile führte das Sträßchen in den Wald, jetzt war es nicht mehr weit. Im Wald sah sie kaum etwas und musste langsamer gehen. Von der Hauptstraße jenseits der Schlucht war dann und wann ein Auto zu hören, aber es gab noch nähere Geräusche, die aus dem Wald kamen, als bewegte sich die Dunkelheit kaum merklich, ein leichtes Beben der Atmosphäre. Als sie zu den Serpentinen kam, in denen die Straße zum Fluss hinunterführte, konnte sie schon die Lichter des Hotels ausmachen. Der Wald war hier weniger dicht, und sie sah wieder mehr. Sie rannte die engen Windungen hinunter und über die Brücke. Ihre Fußsohlen brannten vom rauen Asphalt.
    Sie ging um das große Gebäude herum, am hell erleuchteten Haupteingang vorbei. Als sie um die Ecke trat, hörte sie Stimmen und Gelächter. Die Tür zur Küche stand offen, drinnen arbeiteten die Köche in feinkarierten Hosen und weißen Kitteln. Sie räumten die Küche auf. Es dauerte eine Weile, bis einer der Lehrlinge, einer mit langen Haaren, sie entdeckte. Er kam zur Tür, begrüßte sie und bot ihr eine selbstgedrehte Zigarette an.
    Wir sind gleich fertig, sagte er und zündete sich selbst eine an. Dann streckte er den Kopf in die Küche und rief, Edo, deine Freundin ist da!
    Sie mochte den Klang dieses Wortes. Sie war Edos Freundin, obwohl sie ihn erst vor einer Woche kennengelernt hatte, im Pub am Bahnhof. Er hatte ihr ein Bier angeboten und von seiner Arbeit im Hotel erzählt.
    Sie hatte mit ihrem Vater abgemacht, dass er sie um halb elf abholen würde. Als sie es Edo sagte, machte er sich über sie lustig. Überhaupt hatte sie immer das Gefühl, er nehme sie nicht ganz ernst. Er war im vierten Lehrjahr als Koch, drei Jahre älter als sie, und hatte sogar ein eigenes Auto, einen halbverrosteten Fiat. Als sie am nächsten Tag wieder in den Pub ging, sagte sie ihrem Vater, er müsse sie nicht abholen, jemand würde sie heimbringen. Er wollte wissen, wer, und sie stritten sich. Edo war an dem Abend nicht im Pub, und sie lief zu Fuß nach Hause, einen Weg von mehr als einer Stunde. Am Tag darauf nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, ging nach dem Mittagessen zum Hotel und fragte nach Edo. Er stand mit ein paar seiner Kollegen draußen neben dem Hintereingang und rauchte. Sie trat zu den Männern und tat, als sei sie zufällig vorbeigekommen. Er habe Zimmerstunde, sagte Edo mit einem selbstzufriedenen Lächeln, willst du mein Zimmer sehen? Es gab ein großes Hallo unter seinen Kollegen. Er wurde rot. Sie sagte, wenn er wolle, könnten sie ein wenig spazieren gehen.
    Sobald sie mit Edo allein war, benahm er sich ganz anders. Sogar seine Stimme veränderte sich, wurde leiser und vorsichtiger. Sie spazierten den Fluss entlang, der Pfad führte durch hohes Gras und Gebüsch und war so schmal, dass sie hintereinander gehen mussten. Gillian ging voraus und spürte Edos Blicke in ihrem Rücken. Nach ein paar hundert Metern setzten sie sich in den Schatten einiger Bäume an die Uferböschung. Die Strömung des Flusses war stark, Edo warf herumliegende Äste ins Wasser, die tief eintauchten, als würden sie von einer unbekannten Kraft nach unten gezogen und sofort mitgerissen. Er erzählte von seinen Zukunftsplänen, nach der Rekrutenschule wollte er ins Ausland gehen, nach Asien oder Afrika. Während Gillian im Gymnasium sitzen und Latein und Mathe lernen würde, wollte Edo die Welt entdecken. Sie legte sich hin und

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