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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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monochrome, schwarz glänzende Flächen entstanden, in denen die einzelnen Linien nicht mehr zu erkennen waren. Manchmal zerriss das dünne Papier, oder die Blätter zerknitterten während der Arbeit, aber das war ihm egal.
    Thea beschäftigte sich tagelang mit dem Aufhängen ihrer Bilder. Immer wenn Hubert sein Zimmer verließ, stand sie irgendwo herum, eine gerahmte Fotografie in der Hand oder vor sich auf dem Boden. Am Abend verließ Hubert das Kulturzentrum und fuhr ins Dorf, um in einem Restaurant zu essen. Danach guckte er nach seinen E-Mails. Astrid schrieb, sie werde mit Lukas und Rolf zur Vernissage kommen, ob er ihr ein Zimmer in einem schönen Hotel reservieren könne. Nina kündigte sich ebenfalls für die Eröffnung der Ausstellung an und wollte zwei Kommilitonen mitbringen. Er löschte die Mails, ohne sie zu beantworten, er musste sich auf seine Arbeit konzentrieren.
    Er ging nur noch morgens in die Küche, um Kaffee zu machen. Im Hotel ließ er sich nicht mehr blicken. Das wenige, was er brauchte, kaufte er im Dorfladen. An manchen Tagen aß er nur gesalzene Erdnüsse, bis ihm der Mund brannte, und trank Unmengen von Kaffee. Nachts schlief er schlecht, er hatte wirre Träume und erwachte am Morgen oft schweißnass. Manchmal hatte er das Gefühl, alles, was er wahrnahm, stehe in Verbindung mit seinem langsamen Zerstörungswerk, die Wanderungen des Lichts über den Boden des Raumes, das Rauschen des Flusses, das von draußen hereindrang, die Schreie der Kinder aus dem Park des Hotels. Er riss ein Stück Stoff aus einem alten Hemd und zog dann mit Hilfe einer Nadel Faden für Faden aus dem Stoff. Das Gewebe war so fein, dass er das Objektiv des Diaprojektors als Lupe verwenden musste. Nachdem er stundenlang gearbeitet hatte, schob er alles zur Seite, nur um gleich mit der nächsten Aufgabe anzufangen. Es gelang ihm, für halbe Tage die Zeit zu vergessen.

Der letzte Wille ist der, wahrhaft gegenwärtig zu sein.
So daß der gelebte Augenblick uns und wir ihm gehören.
Ernst Bloch

Jill war ans Fenster ihres Büros getreten und schaute hinaus in den Park hinter dem Hotel. Es war ein strahlend schöner Tag, fast alle Liegestühle waren besetzt, Kinder spielten auf der Wiese und im Hintergrund, im Schatten einiger mächtiger Bäume, die am Flussufer standen, saß ein Dutzend Gäste im Kreis. Die meisten waren barfuß, einige trugen nur Shorts und ein T-Shirt. Sie hatten Zeichenblöcke auf den Knien und schauten aufmerksam zu Hubert, der in ihrer Mitte stand und redete. Neben ihm saß auf einem Korbstuhl eine nackte junge Frau. Hubert machte ausladende Handbewegungen, es sah aus, als zeichne er ein Bild in die Luft.
    Sein Kurs war ein voller Erfolg, Jill hätte ihn zwei Mal füllen können, so viele Anmeldungen hatte es gegeben. Auch ein Modell war schnell gefunden worden, Ursina, die Masseurin, die im Dorf eine Praxis hatte und auf Abruf ins Hotel kam. Sie hatte Jill irgendwann erzählt, dass sie während ihres Studiums gelegentlich als Modell gearbeitet habe und sagte ohne Zögern zu. Sie schien ganz unbefangen, wenn sie sich während der kurzen Pausen streckte und herumging, um sich die Zeichnungen der Gäste anzuschauen. Jill winkte Hubert, aber er bemerkte sie nicht und sie setzte sich wieder an den Schreibtisch, um die Einsatzpläne für den nächsten Monat fertigzustellen.
    Es war erstaunlich, wie schnell Hubert sich nach seinem Zusammenbruch erholt hatte. Am Morgen der Vernissage hatte Jill sich ernsthaft Sorgen um ihn gemacht. Arno hatte sie angerufen und gesagt, sie solle sofort kommen. Es war ihr freier Tag und sie war noch im Nachthemd gewesen, aber eine Viertelstunde später stand sie neben Arno in Huberts Zimmer im Kulturzentrum. Hubert war bleich wie ein Laken, auf seiner Stirn waren Schweißtropfen. Jill rief den Arzt an, dann holte sie in der Küche ein großes Glas Wasser. Du musst trinken, sagte sie zu Hubert und half ihm, sich aufzusetzen. Der Arzt verschrieb ihm etwas gegen den hohen Blutdruck, aber vor allem, sagte er, brauche er Erholung.
    Meine Frau kommt und drei meiner Studenten, sagte Hubert. Sie glauben, dass ich die Ausstellung mache.
    Ist das deine größte Sorge?, fragte Jill. Komm, ich bringe dich zu mir, da findet dich keiner.

    Die ersten Tage bei Jill machte Hubert kaum etwas. Wenn sie ihn am Abend fragte, wie er den Tag verbracht habe, zuckte er mit den Schultern. Nach einigen Tagen fing er an zu lesen. Die meisten Bücher im Haus gehörten Jills Mutter, Bildbände über die

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