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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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Gegend, Kochbücher und englische Unterhaltungsromane. Diese zusammengewürfelte Bibliothek hatte dazu beigetragen, dass Jill sich ein wenig mit ihrer Mutter versöhnt hatte. Wenn sie die handschriftlichen Notizen in den Kochbüchern las, waren es keine Geheimnisse, die sie fand, aber Spuren eines Lebens, das kein anderes Ziel gehabt hatte, als ihrem Mann und ihrer Tochter ein schönes Zuhause zu schaffen.
    Seit Jill im Ferienhaus wohnte, kamen ihre Eltern immer seltener herauf. Jills Vater hatte Probleme mit den Knien, und die Treppen machten ihm zu schaffen. Wenn sie überhaupt noch in die Ferien fuhren, dann in Kurhäuser, in denen er seine Therapien machen konnte.
    Hubert schien zu lesen, was ihm gerade in die Hände kam, eine Sammlung lokaler Sagen, ein Buch über die Alpenflora, ein kleines Bändchen mit Engadiner Sinnsprüchen, die als Sgraffiti überall an den Häusern zu finden waren.
    Die Kritik ist einfach, das Tun schwierig, las er vor. In dem Haus muss ein Künstler gewohnt haben. Oder der hier: Etwas vom Wolf steckt in uns allen.
    Jill stand in der Küche und bereitete das Abendessen zu.
    Dein Schicksal kannst du lieben, sogar wenn es ein bitteres ist, las Hubert. Findest du, das stimmt?
    Du könntest den Salat waschen, sagte Jill.
    Als sie am nächsten Tag nach Hause kam, saß Hubert vor dem Haus und zeichnete. Sie trat zu ihm hin und schaute ihm über die Schulter. Er war dabei, ein Sgraffito aus dem Bändchen mit Lebensweisheiten abzuzeichnen. Er blätterte für sie durch den Block und zeigte ihr die Zeichnungen, die er gemacht hatte, sorgfältige Kopien der Meerjungfrauen, Krokodile und Sonnenräder, mit denen die Sprüche verziert waren. Er riss ein Blatt aus dem Block und reichte es ihr. Ein Jahr ist lang, zehn Jahre sind kurz, las sie.
    Sie schliefen im selben Bett. Jill ging zuerst ins Bad. Wenn Hubert das Licht ausgemacht und sich neben sie gelegt hatte, rutschte sie manchmal zu ihm hinüber, und sie umarmten sich. Wenn Jill sich umdrehte, spürte sie, dass Hubert eine Erektion hatte. Keiner sagte ein Wort, und nach einer Weile kroch Jill zurück auf ihre Seite. Eines Abends fragte sie ihn ernsthaft, ob er Lust habe, im Club einen Zeichenkurs zu leiten, und war erstaunt, dass er gleich zusagte.

    Jill war glücklich wie schon lange nicht mehr. Jetzt erst merkte sie, wie alleine sie gewesen war in den vergangenen Jahren. Wenn sie sich an die Zeit mit Matthias erinnerte, dann, als hätte sie nichts mit ihrem gegenwärtigen Leben zu tun. Die Erinnerung an die Aktsitzungen mit Hubert hingegen war all die Jahre lebendig geblieben.
    Nachdem sie Arno dazu überredet hatte, Hubert noch einmal ins Kulturzentrum einzuladen, war sie wochenlang nervös gewesen. Als er dann in der Hotellobby vor ihr gesessen hatte, war sofort wieder alles wie damals. Und seit Hubert bei ihr wohnte, freute sie sich jeden Abend, nach Hause zu kommen. Er kochte jetzt regelmäßig. Nach dem Essen saßen sie oft lange vor dem Haus und redeten.
    Der erste Kurs, den Hubert anbot, war Landschaftsmalerei. Ein halbes Dutzend Gäste meldete sich an. Am Abend traf Jill eine der Kursteilnehmerinnen, eine ältere Dame, die mit ihrer Enkelin angereist war und mit dieser den Kurs besucht hatte. Die Frau war ganz begeistert, sogar ihrer Enkelin habe es Spaß gemacht. Auch Hubert schien den Tag genossen zu haben. Als Jill nach Hause kam, hatte er schon gekocht. Und, wie war es?, fragte sie.
    Es ist erstaunlich, wie viele Leute in ihrer Freizeit malen, sagte er. Es sind keine großartigen Talente dabei, aber wenigstens keine blutigen Anfänger.
    Offenbar hast du eine Verehrerin gefunden, sagte Jill.
    Hubert schaute sie mit großen Augen an, dann sagte er, ach, Elena? Die ist keine zwanzig.
    Ich habe eher an ihre Großmutter gedacht, sagte Jill lachend.
    Da einige Gäste vierzehn Tage im Club verbrachten und gern weiter malen wollten, bot Hubert in der Woche darauf einen zusätzlichen Kurs im Porträtieren an. Offenbar hatte es sich herumgesprochen, dass er ein guter Lehrer war, jedenfalls meldeten sich doppelt so viele Gäste dafür an. Gegen Ende der Woche fragte Jill, ob er nicht auch Aktzeichnen unterrichten könne, das würde die jüngeren Gäste bestimmt ansprechen. Und du stehst Modell?, fragte er. Wenn ich niemanden sonst finde, sagte Jill.

    Zum Aktzeichenkurs hatten sich vor allem Männer angemeldet. Manchmal zeigte Hubert Jill abends Skizzen, die er von den Teilnehmern gemacht hatte, boshafte kleine Karikaturen von einem scheuen

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