Nacht ohne Schatten
dröhnt. Er will schreien, sich wehren, und kann es nicht.
Atmen, er muss atmen. Er versucht es, rasselnd. Seine Zunge ist taub und schmeckt nach Blut. Was ist geschehen?Etwas ist da, jemand ist da, beugt sich über ihn. Kein Mensch, kein Gesicht, nur ein Schemen, und immer noch dieser wahnsinnige Schmerz.
Bitte, ich will nicht â¦
Er kann nicht sprechen, kann sich nicht bewegen, schafft nur mit sehr groÃer Mühe ein Stöhnen.
Zeit vergeht, rast, gefriert. Sekunden? Minuten? Er weià es nicht. Schräg über sich erkennt er die Kirche, unscharf, hell. Er blinzelt, erinnert sich plötzlich an die Ritterburg, mit der er als Junge so gerne spielte. Eine Festung mit Zugbrücke und Graben und zwei runden Türmen, fast so wie die, unter denen er liegt.
Jetzt ebbt der Schmerz ab, und der, der ihn bringt, steht über ihm. Ein riesiger Schatten. Hebt etwas in den Himmel. Blitzend. Spitz.
Bitte â¦
Immer noch kann er sich nicht bewegen. Immer noch sind da die Bilder aus seinem Elternhaus, und er schmeckt wieder den Kakao, den seine Mutter brachte, wenn er mit seinen Freunden Ritter spielte. Fühlt ihre weiche Hand in seinem Haar.
Er will diese Hand ergreifen, er will sich hineinschmiegen in ihren Duft, sich in ihm verlieren, aber jetzt dröhnen wieder die Trommeln, und sie dringen in seine Brust und schlagen dort weiter. Dunkel. Schwer. Das ist nicht wahr, denkt er, das geschieht mir nicht wirklich. Aber der Schmerz hält ihn fest und die Trommeln verstummen nicht, und der Schatten scheint einen Moment lang regelrecht vor der Kirche zu fliegen. Dann jagt er in irrsinnigem Tempo auf ihn herab, und der Schmerz explodiert.
Gott,
denkt er.
Mama. Nein. Ich will doch leben
.
Ein letzter Blick über die Schulter. Ein Sprung. Geschafft. Bat hebt ihren Rucksack auf, setzt sich in Bewegung. Anfangs hat sie ein bisschen Schiss gehabt, Jana nachts allein zu besuchen. Schiss, dass jemand sieht, wie sie über die Mauer klettert. Schiss, dass irgendein Nachtwächter oder Bulle hier patrouilliert und Stress macht. Inzwischen ist sie cool, fühlt sich hier sicher, ja sogar geborgen. Allein mit den Toten und deren Energie, die tagsüber, wenn all die anderen Besucher über den Melatenfriedhof trampeln, kaum zu spüren ist. Die Wege zwischen den Gräbern sind unbeleuchtet, graue Kiespfade, die sich im Schwarz verlieren, auf einigen Gräbern flackern rote Lichter. Steinerne Engel bewachen sie â Boten aus einer anderen Welt. Bat lächelt. Bald wird es Frühling und die Fledermäuse werden den Engeln wieder Gesellschaft leisten, auÃerdem ist es dann nicht mehr so kalt.
Da ist schon die Kapelle, wo der Hauptweg kreuzt, hier muss sie an der Trauerweide vorbei zu den neueren Gräbern. Der Weg ist ihr in den letzten zwei Jahren vertraut geworden, wahrscheinlich könnte sie ihn inzwischen mit verbundenen Augen finden. Die Flaschen in ihrem Rucksack klimpern leise, sündhaft teure Bacardi Breezer hat sie gekauft und noch einiges mehr, weil gleich ein besonderer Tag beginnt: Der 22 . Februar, Janas acht-zehnter Geburtstag. Bat hat ihrer Freundin geschworen, dass sie eine Party feiern werden, und sie hat vor, dieses Versprechen zu halten.
Zuerst muss sie aufräumen, wie immer. Die Krokusse und Schneeglöckchen sind verblüht, und diese spieÃigen Usambaraveilchen haben hier nichts zu suchen. Bat wirft sie auf den Kompost und holt eine Bodenvase mit frischem Wasser. Achtzehn Grablichter hat sie für Jana gekauft. Sie arrangiert sie in Herzform, drückt die Vase in die Mitte,löst die dunkelroten Rosen von ihrem Rucksack und steckt sie hinein. Janas Engel thront über ihr, im rötlichen Licht der Kerzen erwachen seine Marmorgesichtszüge zum Leben. Zuerst hätte Bat ihn am liebsten weggesprengt. Unerträglich fand sie die sanfte, mädchenhafte Anmut, das UnschuldsweiÃ, die stille Traurigkeit. So war Jana nicht, hätte sie Janas Eltern am liebsten angeschrien, das könnt ihr nicht machen! Doch andererseits ist es auch nicht möglich, den Engel zu hassen, dazu sieht er Jana viel zu ähnlich. Also hat sie sich mit seiner Anwesenheit arrangiert.
Bat holt Janas Lederkappe aus dem Rucksack und drückt sie dem Engel aufs Haupt. Vor zwei Wochen hat sie ihm ein Tattoo auf die Rückseite seines rechten Flügels gesprüht, zwei Sterne und eine Fledermaus, sie sind noch da, bislang hat keiner was bemerkt. Ein Nietenhalsband, mehrere
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