Nacht über Algier
Etwas, das die Menschen in Friedenszeiten nie klar zu erfassen in der Lage sind. Es macht sich gut, mit einem Glas Martini in der Hand oder aus einem gemütlichen Wohnzimmer heraus die Gewalt zu verdammen. Aber was weiß man wirklich darüber? Nichts. Man entrüstet sich, man protestiert, man stützt den Kopf auf, Tozz [ (arab.) Ausruf der Empörung]! Die Gewalt hat ihre eigene Logik. Sie ist genauso vernünftig wie der Verzicht darauf. Sie hat ihre eigene Moral und ihre eigenen Werte; Werte, die nichts mit den konventionellen Werten zu tun haben, und eine Moral, die in nichts mit der landläufigen Moral übereinstimmt, und doch ist beides genauso verbindlich. Sobald sich der Wille zu töten als einziger Heilsweg erweist, weichen die gefährlichsten Raubtiere vor der Grausamkeit der Menschen zurück. Denn unter allen Hydren sind die Menschen die einzigen, die wissen, wie man die Grenzen des Animalischen überschreitet und gleichzeitig einen klaren Kopf behält. Es gibt nichts Ungeheuerlicheres als den Zorn der Menschen. Er ist sich seiner Schändlichkeit absolut bewußt, was ihn noch grausamer macht als das Leid, das er anderen zufügt. Das ist Barbarei, also etwas, was weder Hyänen noch Menschenfresser sich auszudenken, geschweige denn auszuführen vermögen. Und ausgerechnet mich fragst du, warum der Mund, der eben noch küßte, auf einmal zubeißt und die streichelnde Hand zum Schlag ausholt? Eben weil ich keine Antwort darauf weiß, töte ich. Ich töte, um zu begreifen. Und ich werde so lange weitertöten, bis ich begriffen habe, was ein menschliches Wesen dazu treibt, sich in der Kunst auszuzeichnen, seinen Nächsten auf die schlimmste Weise zu mißhandeln. Ich möchte wissen, was einen Menschen daran hindert, dem Ruf seines Wahnsinns zu widerstehen, und wie es ihm auf so bewundernswerte Weise gelingt, diesen Wahnsinn auszuleben.«
Der Professor stellt das Tonbandgerät ab und sieht mich eindringlich an. Er merkt sofort, daß ich ihm nicht folge, kneift die Lippen zusammen und läßt sich auf den Stuhl fallen.
»Danach hatte ich Angst, ihn hierzubehalten. Meine Patienten waren nicht mehr sicher vor ihm und meine Wärter nicht in der Lage, ihn zu überwachen. Ich überstellte ihn also wieder der Gefängnisleitung ... Im Gefängnis kapselte er sich ab. Total. Monatelang. Dann, eines Morgens, brachte man ihn wieder zu mir. Und da habe ich einen Unbekannten entdeckt, einen Heiligen, glühend vor Frömmigkeit, der auf Knien vor der Dachluke bis zur Erschöpfung betet.«
»Hat er sich dem Islamismus verschrieben?«
»Er weiß überhaupt nicht, was das ist.«
»Hat ihn vielleicht jemand bearbeitet?«
»Ich sage dir doch, das hat nichts mit den Islamisten zu tun. Sein Fall ist außergewöhnlich.«
»Wie ging es weiter?«
»Rückkehr ins Gefängnis. Fünf Jahre ein frommes Leben. Gefügig. Aber verschlossen. Sauber. Ständig mit seinen Waschungen beschäftigt . Ich sag dir, der macht mich wahnsinnig. Sobald er vor mir steht, krampft sich mein Magen zusammen . Dieser Mann«, fügt er hinzu und schwenkt dabei die Karteikarte, »ist davon überzeugt, daß er allein deshalb auf die Welt gekommen ist, um seinem Nächsten Leid zuzufügen.«
»Ich weiß immer noch nicht, was du von mir erwartest.«
»Ich rate dir, täglich zwei Liter Kaffee zu trinken. Denn von jetzt an wirst du kein Auge mehr zutun können. Unser Mann fällt unter die Amnestie des Präsidenten. Er wird ab dem ersten November frei sein . Als ich davon erfuhr, habe ich sofort den Gefängnisdirektor kontaktiert. Der sagte, daß die Liste von einer Expertenkommission aufgestellt worden ist, die ihn zum Entlassungskandidaten erklärt hat. Ich habe an die besagte Kommission geschrieben. Man hielt es nicht für nötig, mir zu antworten. Ich habe das Ministerium der Justiz in dieser Angelegenheit angerufen. Die Kommission sei unabhängig, hieß es dort. Ich habe das Ministerium des Innern alarmiert. Nichts. Ich habe sogar die Presse informiert. Eine Journalistin ist vorbeigekommen. Aber dann wieder nichts. Die Zeit vergeht, und der Namenlose denkt bereits an seine nächsten Opfer. Das ist der Grund, weshalb ich mich an dich gewandt habe, Brahim.«
»Wenn ich richtig verstehe, soll ich zum Rais gehen und ihn bitten, seinen Erlaß rückgängig zu machen?«
»Es ist wirklich ernst, Brahim.«
»Was kann ich denn da als kleiner Bulle tun, Professor, wenn der Präsidentenerlaß bereits abgezeichnet ist, wenn die betreffenden Ministerien keinen Finger
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