Nacht über Algier
Kindes, das ich war, Beachtung schenken sollen: Wenn ich das Ausmaß des Schreckens, der mich erfaßt hatte, nicht begriff, dann vielleicht deshalb, weil es nichts zu erklären gab. Doch ich wollte unbedingt begreifen. Damit ich ein ruhiges Gewissen hätte, damit ich wieder ein normales Leben aufnehmen könnte? Kann man wieder Geschmack am Leben bekommen, wenn man mit angesehen hat, wie die Seinen abgeschlachtet wurden? Möglicherweise. Ich nicht. Irgend etwas in mir hatte ausgehakt. Also habe ich beschlossen, mir Klarheit zu verschaffen. Es hat lange, höllisch lange gedauert, aber ich hab's geschafft: Ich habe begriffen!«
»Und was hast du begriffen?«
die französische Autorität auflehnt.
»Daß es nichts zu begreifen gibt«, läßt die Grabesstimme vernehmen. »Nichts . Ich hab mich damit herumgeschlagen, die Antwort auf eine Frage zu finden, die man gar nicht zu stellen braucht. Warum tötet man? Wenn man tötet, stellt man sich keine Fragen, man handelt. Die Geste wird zur alleinigen Aussage. Das Töten beginnt da, wo man keine Erklärung mehr erwartet. Sonst hätte man es unterlassen. Oder etwa nicht? Man tötet, damit man gar nicht erst in die Versuchung kommt, zu begreifen. Es ist der Endpunkt einer Niederlage, das Absegnen eines Tabubruchs. Der Mord stellt die Unfähigkeit des Mörders dar, den Augenblick, in dem der Mensch seine Raubtierinstinkte wiedererlangt und aufhört, ein denkendes Wesen zu sein. Der Wolf tötet aus Instinkt. Der Mensch tötet aus Berufung. Er würde sich alle möglichen Gründe ausdenken, damit er seine Tat nicht rechtfertigen muß. Da er für das Leben nicht zuständig ist, wie kann er es dann wagen, darüber nach Belieben zu verfügen?
Seine Entscheidung stützt sich auf kein annehmbares Argument, sie entsteht aus seiner eigenen Bedeutungslosigkeit. Wer das Leben der anderen nicht achtet, hat von seinem eigenen nichts begriffen. Nichts. Von einem Nichts zum andern, vom Nebel zur Finsternis, sucht er sich beständig und kriegt sich doch nicht zu fassen. Heißt es nicht: >Ruhe! Es wird geschossen Warum bittet man in dem Augenblick um Ruhe, wo das Universum beginnt, unter unerträglichen Schreien zu erbeben? Oft habe ich geglaubt, die Macht von Göttern zu besitzen, so sehr war ich davon überzeugt, Herr über das Schicksal meiner Opfer zu sein. Resultat: Das Opfer haucht sein Leben aus, aber mir entzieht sich alles. Ich fühlte mich wieder so allein auf der Welt wie der Himmel am Tag nach der Apokalypse . Und wohin hat mich das am Ende geführt? Nehmen wir mal an, ich hätte etwas begriffen, wo stehe ich dann jetzt? Ganz genau da, wo alles seinen Anfang genommen hat. Was für eine Vergeudung! Ich verkörpere mein eigenes Scheitern. Ich bin nicht mehr wert als die Leichen, die meinen Weg pflastern. Eine absolute Null, ein Mörder, der erst die Orientierung, dann seine Seele verloren hat. Ich empfinde nur noch Verachtung für mich, jetzt, wo kein Wort mehr zu mir dringt. Ich existiere nicht mehr. Ich bin eine krepierte Ratte, verwesender Abfall. Ich bin der Abgrund, der mich herabzieht und im selben Moment zertrümmert.«
Der Professor stellt das Tonbandgerät ab und setzt sich wieder. Er faßt sich ans Kinn.
»Das hat er nach seinem ersten Aufenthalt im Knast gesagt. Die Gefängnisleitung überstellte ihn zu mir, um zu sehen, ob er das Gedächtnis wiedererlangt hatte und ruhiger geworden war. Anscheinend hatte er plötzlich aufgehört, Krawall zu machen.«
»Du warst wohl anderer Meinung?«
»Nein.«
»Hat er deliriert?«
»In gewissem Sinne, ja.«
»Hast du ihn zurück in den Knast geschickt?«
»Keineswegs. Er hat mich interessiert. Er ist sieben Jahre in meiner Anstalt geblieben. Jedesmal wenn ich dachte, jetzt bist du ganz dicht dran, seine Persönlichkeit zu erfassen, hat er es fertiggebracht, sich hinter einer anderen, noch komplexeren und abscheulicheren zu verschanzen ... Hör dir das auch noch an. Das sind seine Worte, drei Jahre nach dem, was du gerade gehört hast.«
Die Spulen setzen sich wieder in Bewegung, und eine nunmehr klare Stimme umfängt uns:
»Weißt du, warum Gott nicht zuläßt, daß sich Engel und Teufel gegenseitig umbringen? Weil er, wenn sie einander den Krieg erklärten, nicht mehr als Schlichter auftreten und sie nicht mehr voneinander unterscheiden könnte. Wenn sich der Haß irgendwo festsetzt, sind alle vom Teufel besessen, die Gerechten genauso wie der Abschaum. Der Krieg ist keine Schachpartie. Er ist ein totales Schachmatt.
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