Nacht über Algier
rühren, wenn sich alle Welt einen Dreck darum schert? Soll ich ihn am Gefängnistor abfangen, ihm einen Strafzettel verpassen und ihn wieder einlochen? Ich weiß nicht, wie ich jemandem den Weg versperren soll, den die Justiz rehabilitiert hat.«
»Überwache ihn.«
»Womit? Wie lange? Und mit welcher Handhabe? Mal ehrlich, Professor, glaubst du wirklich, daß das durchzuführen ist?«
»Ich sage dir doch, daß er wieder damit anfangen wird.«
»Hast du einen Beweis?«
»Ich bin Psychiater, verdammt noch mal. Diese Person ist mein Patient. Er ist hochgefährlich.«
»Hat er im Knast Dummheiten gemacht?«
»Was ist ein Raubvogel im Käfig anderes als ein gelähmter Spatz? Der Namenlose ist gerissen. Er wartet ganz ruhig auf seine Beute. Ist er erst mal draußen, schlägt er zu. Dem Raubvogel ist es ein Vergnügen, wie ein böses Omen über der Herde zu schweben, seine Beute auszuwählen und zuzustoßen, am liebsten völlig wahllos. Du solltest ihn hören, wenn er erzählt, wie er ganz plötzlich, einfach so, beschließt, daß der Kerl, der ihm über den Weg läuft, der kleine Bengel oder die alte Bäuerin, denen er zufällig begegnet, verschwinden müssen. Nicht etwa, weil sie sich etwas haben zuschulden kommen lassen, sondern allein, weil er es so beschlossen hat. Sein ganzes Glück besteht darin, die Leute unvorbereitet zu treffen, ohne den geringsten Beweggrund, bloß um das Bewußtsein absoluter Freiheit zu haben, einer Freiheit, die nicht das geringste Zögern zuläßt. Ein Sonderfall, der schwerste und beunruhigendste, der mir je übertragen worden ist, Brahim.«
3
Als stäche mir ein Haufen Dornen in den Rücken, so verlasse ich Professor Allouche. Trotz der Hitze ist mir kalt, und ich fühle mich am ganzen Körper wie taub. Irgend etwas braut sich in meiner Magengrube zusammen und hinterläßt einen unangenehmen Nachgeschmack im Mund. Und immer wenn mich ein derartiges Vorgefühl beschleicht, kann ich sicher sein, daß ein Unglück eintreten wird.
In der Zentrale angelangt, stolpere ich buchstäblich über Inspektor Bliss. Bei seinem Anblick bekomme ich Gänsehaut. Wenn Bliss dich am Eingang zum Paradies empfängt, dann ist klar, daß die Hölle umgezogen ist.
»Lino hat angerufen«, verkündet er mir. »Er bittet um drei Tage Urlaub.«
»Njet!«
»Er sagt, daß er ein Problem hat.«
»Ich dachte, er sei krank.«
»Vielleicht ein gesundheitliches Problem.«
»Ist mir schnurz. Ich will ihn morgen sehen, hier in meinem Büro.«
»Ich glaube nicht, daß er morgen dasein wird. Lino hat aus reinem Dienstreflex um die Erlaubnis gebeten, fernzubleiben. Seit einiger Zeit ist er ziemlich eigenwillig, falls man überhaupt noch von einem eigenen Willen sprechen kann.« Er tippt sich lässig an die Schläfe, stürzt die Außentreppe hinunter und geht auf sein Auto zu.
»Wohin fährst du?«
»Der Chef hat mir einen kniffligen Fall übertragen«, antwortet er. Dann schnipst er plötzlich mit den Fingern. »Ach, fast hätte ich es vergessen. Ab sofort frag zuerst den Chef, wenn du mich brauchst. Er legt Wert darauf.«
Und dabei entfernt er sich wie ein unheilvoller Geist, der seine Beschwörungsformeln spricht.
Am nächsten Morgen treffe ich Lino schon sehr früh im Büro an, er sitzt, eifrig kritzelnd, über irgendwelche Papiere gebeugt. Er versucht mir weiszumachen, daß er wie besessen arbeitet, doch ein kurzer Blick auf sein Chaos sagt meinem ausgekochten Kabylenverstand, daß er dabei ist, einen alten, längst abgelehnten Bericht Wort für Wort abzuschreiben. Selbstverständlich fährt Lino mit seinem Affentheater fort: Er streckt die Zunge raus, um seine Großbuchstaben hochzuhieven, stemmt sich gegen seine Kommas, kratzt sich hinterm Ohr, um das treffende Wort hervorzulocken, und ist derart vertieft, daß er hochschreckt, als er mich plötzlich vor sich entdeckt.
»Ist es schon acht?« ruft er heuchlerisch aus.
»Soll ich daraus schließen, daß du die ganze Nacht über deinem Papierkram gesessen hast?«
»Du weißt, daß ich in puncto Arbeit nichts dem Zufall überlasse, Kommy.«
»Wie rührend.«
Sein Blick weicht aus.
»Pack dein Zeug weg und komm mit. Wir haben zu tun.« Lino fährt hoch. »Dauert es lange?«
»Kommt drauf an. Warum?«
»Ich hab heute nachmittag etwas Dringendes vor, Kommy.«
»Mir egal.«
Widerwillig zieht er seine Jacke an und beeilt sich, mir auf den Flur zu folgen. Als wir im Auto sitzen, frage ich ihn: »Verrätst du mir das Rezept deines
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