Nacht über den Wassern
Connecticut war Mutters Heimatstadt. Percy zog aus seiner Hemdtasche eine zerknitterte und verblaßte bräunliche Fotografie.
»Meine Urgroßmutter hieß doch Ruth Glencarry, nicht wahr, Mutter?«
»Ja – sie war die Mutter meiner Mutter. Warum, Liebes, was hast du gefunden?«
Wortlos reichte Percy seinem Vater die Fotografie, und die anderen drängten sich um ihn, um sie ebenfalls zu betrachten. Das Bild zeigte eine Straßenszene in einer amerikanischen Stadt, New York wahrscheinlich, vor etwa siebzig Jahren. Im Vordergrund stand ein Jude von ungefähr dreißig mit schwarzem Bart. Er trug die Kleidung eines Arbeiters und einen Hut. Hinter ihm befand sich ein Handkarren mit einem Schleifstein. »Reuben Fishbein – Scherenschleifer«, konnte man an der Karrenseite lesen. Neben dem Mann stand ein etwa zehnjähriges Mädchen in einem verschossenen Baumwollkleid und dicken Stiefeln.
»Was soll das, Percy? Wer ist dieses Lumpenpack?« fragte der Vater.
»Dreh das Bild um«, riet ihm Percy.
Vater tat es. Auf der Rückseite stand: »Ruthie Glencarry, geb. Fishbein, mit zehn Jahren.«
Margaret blickte ihren Vater an. Er sah aus, als würde ihn der Schlag treffen.
»Interessant, daß Mutters Großvater die Tochter eines herumziehenden jüdischen Scherenschleifers heiratete«, meinte Percy, »aber das ist halt in Amerika so, wie man hört.«
»Das ist unmöglich!« rief Vater, doch seine Stimme zitterte, und Margaret vermutete, daß er es für nur allzu möglich hielt.
Percy fuhr unbekümmert fort: »Jedenfalls wird das Judentum durch die Mutter vererbt, und da die Großmutter meiner Mutter eine Jüdin war, bin ich ein Jude.«
Vater war kreidebleich. Mutter blickte verwirrt und mit leicht gerunzelter Stirn drein.
»Ich kann nur hoffen, daß nicht die Deutschen diesen Krieg gewinnen, denn sonst darf ich nicht mehr ins Kino gehen, und Mutter wird gelbe Sterne auf ihre Ballkleider nähen müssen«, sagte Percy.
Das war einfach zu schön, um wahr zu sein. Margaret studierte eingehend die Worte auf der Rückseite des Bildes, dann dämmerte ihr die Wahrheit. »Percy«, sagte sie schmunzelnd, »das ist deine Schrift!«
»Nein, bestimmt nicht!« protestierte Percy.
Aber inzwischen hatten auch die anderen seine Schrift erkannt. Margaret lachte schadenfroh. Percy hatte dieses alte Bild eines kleinen jüdischen Mädchens irgendwo aufgetrieben und den Text auf der Rückseite erfunden, um Vater hereinzulegen. Und Vater war prompt darauf hereingefallen. Kein Wunder! Es mußte der absolute Alptraum für jeden Rassisten sein, festzustellen, daß nicht alle seine Vorfahren reinrassig waren. Geschah ihm ganz recht!
»Pah!« meinte Vater und warf das Bild auf den Tisch. Mutter sagte vorwurfsvoll: »Percy, also wirklich!« Sicherlich hätten sie noch mehr zu sagen gehabt, doch in diesem Moment meldete Bares, der griesgrämige Butler: »Mylady, es ist angerichtet.«
Sie verließen den Salon und gingen durch die Eingangshalle zum kleinen Eßzimmer. Es würde viel zu durchgeschmortes Roastbeef geben wie immer am Sonntag, und Mutter bekam ihren obligatorischen Salat: Sie aß nie etwas Gekochtes, weil sie überzeugt war, daß das Kochen Qualität und Geschmack zerstörte.
Vater sprach das Tischgebet, und sie setzten sich. Bates bot Mutter Räucherlachs an. Geräucherte, marinierte oder auf andere Weise konservierte Nahrungsmittel waren nach ihrer Theorie in Ordnung.
»Es ist klar, was wir jetzt zu tun haben«, meinte Mutter, als sie sich von der Platte mit Lachs bediente. Sie redete so beiläufig, als würde sie nur das aussprechen, was alle schon wußten. »Wir müssen nach Amerika fahren und dortbleiben, bis dieser dumme Krieg zu Ende ist.«
Einen Augenblick herrschte bestürztes Schweigen.
Dann platzte Margaret entsetzt heraus: »Nein!«
»Ich meine, es hat heute bereits genug Streit für einen Tag gegeben«, erklärte Mutter ungerührt. »Wir wollen jetzt unser Mittagessen in Ruhe und Frieden zu uns nehmen! «
»Nein!« protestierte Margaret noch einmal. Sie brachte vor Empörung kaum ein weiteres Wort hervor. »Ihr – ihr könnt das nicht tun!
Es ist…«, stammelte sie schließlich. Sie wollte sie anschreien, sie des Hochverrats und der Feigheit bezichtigen, ihre Verachtung hinausbrüllen; aber sie fand die Worte nicht und alles, was sie sagen konnte, war: »Das geht doch nicht!«
Selbst das war zuviel. »Wenn du deinen Mund nicht halten kannst, dann gehst du jetzt besser«, sagte Vater.
Margaret preßte ihre
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