0112 - Die Drachensaat
Vor der Luke stand eine schwere Kommode. Diana hatte sie davor geschoben.
Shao dachte an Suko, der einem Drachen vorgeworfen werden sollte, und sie dachte auch an Diana, die von den Verfolgern geschlagen und verschleppt worden war. Wohin, das wusste Shao nicht. Sie wollte nur eins: raus aus diesem Verschlag. Die Leuchtziffern ihrer Uhr zeigten an, dass bereits eine halbe Stunde seit dem Verschwinden der Verfolger vergangen war.
Shao konnte es also riskieren, den Keller zu verlassen. Sie kroch vor. Mit dem Knie stieß sie gegen den Teller, auf dem die Kerze und die Streichhölzer lagen. Sie musste auf diese einfache Art leuchten, denn elektrisches Licht gab es in diesem Haus nicht.
Shaos ausgestreckte Hände spürten Widerstand. Dort stand die Kommode.
Shao saugte noch einmal die verbrauchte Luft ein und stemmte sich gegen die Kommode.
Nichts.
Der einzige Erfolg war, dass sie nach hinten wegrutschte. Shao biss sich auf die Lippen. Das würde ein hartes Stück Arbeit werden, die Kommode wegzurücken. Diana hatte es da leichter gehabt. Sie brauchte die Kommode nicht in dieser hockenden Stellung gegen die Öffnung zu schieben. Die Chinesin ließ sich etwas anderes einfallen. Sie drehte sich auf dem Boden hockend in dem engen Verlies herum, so dass sie mit dem Rücken gegen die Kommode stieß. Dann stemmte sie ihre Blockabsätze ein und drückte so fest sie überhaupt konnte.
Shao ächzte und stöhnte. Sie setzte all ihre Kraft ein, um die Kommode wegzuschieben. Und sie schaffte es.
Das Knirschen auf dem Boden zeigte ihr an, dass die Bemühungen von Erfolg gekrönt waren. Die Kommode bewegte sich. Stück für Stück rutschte das Möbel zurück. Schon drang durch einen Spalt bessere Luft in den Verschlag. Es war zwar miefiger Kellergestank, aber für Shao war er wie der reinste Sauerstoff. Sie legte eine Pause ein.
Erst einmal zu Atem kommen. Tief holte sie Luft. Mehrmals hintereinander.
Dann startete sie einen neuen Versuch. Wieder rutschte die Kommode ein kleines Stück zurück. Diesmal sogar so weit, dass sich Shao durch den größer gewordenen Spalt zwängen konnte.
Sie klemmte sich zwar den Oberarm ein, doch das war nichts zu dem Erfolg, den sie erreicht hatte.
Die Chinesin konnte das Verlies verlassen.
Auf allen vieren kroch sie in den Keller, stemmte sich an der Wand ab und kam auf die Füße. Endlich…
***
Tief holte sie Luft.
Dir schwindelte, und es dauerte einige Sekunden, bis sie sich gefangen hatte. Dann aber ging es besser. Jetzt rückte Shao die Kommode so weit weg, dass sie bequem in den engen und niedrigen Verschlag hineingreifen und die Kerze holen konnte.
Sie zündete ein Streichholz an und hielt die Flamme gegen den Docht, der sofort Feuer fing.
Ihre nähere Umgebung wurde erhellt.
Der Schein tanzte über die dicken Wände, wenn Shao die Kerze bewegte, er produzierte ein Spiel von tanzenden Schatten, die immer neue skurrile Figuren schufen. Im Keller war es totenstill. Nur Shaos Schritte durchbrachen die Ruhe. Das Mädchen wusste, dass Diana nicht allein in dem Haus gelebt hatte, sondern mit ihrer alten und kranken Mutter zusammen, wie sie selbst erzählte. Die Mutter war bettlägerig und hatte von den Vorgängen kaum etwas mitgekriegt, zumal sie noch an Schwerhörigkeit litt. Shao erreichte die Treppe und stieg sie langsam hoch. Wieder knarrten und ächzten die Stufen. Bei jedem Schritt bogen sie sich durch. Shao verzog das Gesicht. Sie hatte das Gefühl, dieses Geräusch müsse meilenweit zu hören sein. Als Shao die dicke Bohlentür sah, atmete sie auf. Die Hälfte des Wegs lag hinter ihr.
Jetzt hoffte sie nur noch, dass die Tür nicht verschlossen war.
Sie probierte die Klinke. Leicht fiel sie nach unten. Shao drückte, und die Tür war offen.
Sie trat in den Flur und blies die Kerze aus, die sie neben die Tür stellte.
Der Flur war klein, wie alles in diesem Haus, in dem es auch keine gerade Wand gab. Schief und buckelig hatte man damals gebaut, aber das Häuschen krachte nicht zusammen. Es hatte die Zeiten überdauert, im Gegensatz zu manch anderen modernen Bauten. »Diana! Darling, bist du da?« Shao zuckte zusammen.
»Diana, bitte, gib Antwort!« Das Rufen der Mutter wurde drängender.
Shao blieb stocksteif stehen und überlegte. Sollte sie sich melden?
Eigentlich gehörte es sich so, denn die Frau wusste, dass sich jemand im Haus befand Andererseits war es auch gefährlich, denn leicht konnte die alte Dame etwas verraten.
Bevor sich Shao zu etwas entschlossen hatte,
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