Nacht über Eden
jener Tony Tatterton, den Drake beschrieben hatte.
Sein Brief und sein Anruf waren mir nur noch als Erinnerungen aus einer anderen Welt gegenwärtig, in der ich früher gelebt hatte und aus der ich plötzlich in diese kalte, grausame Wirklichkeit vertrieben worden war.
Tony ließ mir Zeit, ihn eingehend zu mustern, während sein sanfter, zärtlicher Blick auf mir ruhte.
»Ich habe fast die ganze Reise über geschlafen«, sagte ich, doch meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Ja, das hat Mrs. Broadfield mir erzählt. Ich bin so froh, daß du hier bist, Annie. Bald werden die Untersuchungen beginnen, die die Ärzte für dich vorgesehen haben, damit sie dich entsprechend behandeln können.« Er tätschelte meine Hand und nickte mit dem Selbstvertrauen und der Sicherheit eines Mannes, der daran gewöhnt war, daß die Dinge nach seinen Vorstellungen abliefen.
»Meine Eltern«, sagte ich.
»Ja?«
»Ihre Beerdigung…«
»Nein, Annie, daran darfst du jetzt nicht denken. Ich habe dir schon in Winnerrow gesagt, daß ich mich um alles kümmern werde. Du mußt deine ganze Kraft darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden«, sagte er eindringlich.
»Aber ich müßte dort sein.«
»Nun, Annie, du kannst jetzt nicht dort sein«, erwiderte er freundlich. »Aber sobald es dir besser geht, werde ich einen weiteren Gottesdienst an ihrem Grab abhalten lassen, und wir werden zusammen daran teilnehmen. Das verspreche ich dir.
Aber jetzt mußt du zunächst einmal die Anordnungen der Ärzte befolgen. Dies ist die beste Behandlung, die man für Geld bekommen kann.« Dann wurde er nachdenklich.
»Ich habe deine Mutter sehr geliebt. Und auch deinen Vater habe ich gemocht. Schon als ich ihn zum ersten Mal traf, habe ich gemerkt, daß er das Zeug zu einer leitenden Position hatte, und ich war sehr glücklich, als er meinen Vorschlag annahm und in mein Geschäft eintrat. Die Zeit, als deine Mutter und dein Vater in Farthy lebten, war die glücklichste meines Lebens.« Er seufzte. »Und die Jahre danach waren die traurigsten und härtesten, die ich erlebt habe. Was auch immer ich getan habe, um diese Kluft zwischen uns zu schaffen, ich möchte es dadurch ungeschehen machen, daß ich dir jetzt helfe, Annie. Bitte laß mich alles tun, was in meiner Macht liegt, um meine Schuld ihnen gegenüber wieder gutzumachen.
Es ist das Beste, was ich tun kann, um ihr Andenken zu ehren.« Seine Augen waren bittend und von Sorge erfüllt.
»Ich möchte dich nicht unterbrechen, Tony, aber es gibt viele Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Ich habe seit langem versucht, Mammi dazu zu bringen, über ihre Zeit in Farthy zu sprechen… und auch darüber, warum sie schließlich weggegangen ist. Aber sie wollte nicht darüber reden. Immer wieder vertröstete sie mich und versprach, mir bald alles zu erzählen. Erst vor kurzem, an meinem achtzehnten Geburtstag, hat sie ihr Versprechen erneuert. Und jetzt…« ich schluckte,
»jetzt kann sie es nicht mehr.«
»Aber ich werde es tun, Annie«, sagte er hastig. »Ich werde dir alles erzählen, was du wissen möchtest und mußt. Bitte glaube und vertraue mir.« Er lächelte und lehnte sich zurück.
»Letztendlich wird es für mich eine Art Erleichterung sein, wenn du alles erfährst und über mich richten kannst.«
Ich musterte sein Gesicht eingehend. War er aufrichtig?
Würde er sein Versprechen wirklich halten, oder sagte er das alles nur, damit ich ihm vertraute?
»Ich habe versucht, meine Schuld wiedergutzumachen, wo immer ich konnte. Ich hoffe, daß du meine Geschenke bekommen hast und daß deine Mutter dir erlaubt hat, sie zu behalten.«
»Oh, ja, ich habe sie noch alle… all die schönen, wunderbaren Puppen.«
»Das ist gut so.« Seine Augen leuchteten, und er sah auf einmal viel jünger aus. Irgend etwas in seinem Gesicht erinnerte mich an Mammi… es war die Art, wie er seine Gedanken und Stimmungen durch ein Augenzwinkern deutlich machte. »Wann immer ich auf Reisen war, habe ich nach einem besonderen Geschenk für dich gesucht. Und da waren diese Puppen genau das richtige. Ich weiß nicht mehr, wie viele ich dir geschickt habe, aber es muß inzwischen eine ganz schöne Sammlung sein, nicht wahr?«
»Ja, sie füllen ein großes Regal, das über die ganze Wand in meinem Zimmer geht. Daddy sagt immer, daß ich bald ein Geschäft eröffnen kann. Jedesmal, wenn er hereinkommt…«, ich hielt inne, denn mir wurde bewußt, daß er nie wieder mein Zimmer betreten würde – und ich
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