Nacht über Eden
Daddy hatten ihn stets wie ihren eigenen Sohn behandelt.
Fast jeder in Winnerrow kannte die Geschichte meiner Mutter und wußte, daß sie in den Willies geboren und aufgewachsen war, daß ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben war und daß sie eine schwere Jugend gehabt hatte. Später war sie fortgezogen und hatte eine Zeitlang bei den Tattertons, der reichen Familie ihrer Mutter, gelebt.
Damals wohnte sie in dem herrschaftlichen Haus der Tattertons, in Farthinggale Manor oder »Farthy«, wie sie es zumeist nannte, wenn ich sie einmal dazu bewegen konnte, über diese Zeit zu sprechen. Doch das geschah nicht sehr oft.
Aber Luke und ich sprachen darüber, sooft wir allein waren.
Farthinggale Manor… In unserer Vorstellung war es ein verwunschenes Schloß, ein magischer Ort, der Tausende von Geheimnissen barg. Und immer noch wohnte der mysteriöse Tony Tatterton dort, jener Mann, der meine Urgroßmutter geheiratet hatte und das riesige Tatterton-Spielzeugimperium leitete, das heute nur noch lose mit unserer Spielzeugfabrik in den Willies verbunden war. Aus Gründen, die meine Mutter nicht preisgeben wollte, vermied sie jeden Kontakt mit ihm, obwohl er nie vergaß, uns allen Geburtstags- und Weihnachtskarten zu schicken. So lange ich mich erinnern konnte, hatte er mir zu jedem Geburtstag eine Puppe aus einem fremden Lande geschickt. Immerhin erlaubte meine Muter mir, sie zu behalten. Es waren wertvolle kleine chinesische Puppen mit langem, glattem, schwarzem Haar, Puppen aus Holland, Norwegen und Irland, die bunte Kostüme trugen und lebendige, strahlende Gesichter hatten.
Luke und ich wollten gerne mehr über Tony Tatterton und Farthy erfahren. Denn es gab so viele Fragen, auf die wir keine Antwort wußten. Was hatte meine Eltern bewogen, der glanzvollen Welt von Farthinggale Manor den Rücken zu kehren? Warum hatte meine Mutter unbedingt nach Winnerrow zurückkehren wollen, wo man hochmütig auf sie herabsah, weil sie eine Casteel aus den Willies war?
So viele Geheimnisse lauerten hinter den Schatten, die uns umgaben! Soweit ich zurückdenken konnte, hatte ich immer das Gefühl gehabt, daß es etwas gab, was ich wissen sollte –
doch niemand sagte es mir, weder mein Vater noch meine Mutter, noch mein Onkel Drake.
Ich wünschte mir, ich könnte vor einer klaren, sauberen Leinwand sitzen und mit meinem Pinsel die Wahrheit auf die weiße Fläche zaubern. Vielleicht war dies der Grund, warum ich so leidenschaftlich gern malte.
ERSTER TEIL
1. KAPITEL
FAMILIENGEHEIMNISSE
»O nein!« rief Drake, der plötzlich hinter mir stand. Ich war so in meine Malerei vertieft, daß ich ihn nicht hatte kommen hören. »Nicht schon wieder ein Bild von Farthinggale Manor mit Luke, der am Fenster steht und in die Wolken starrt!«
Drake verdrehte die Augen.
Luke setzte sich rasch auf und strich eine Haarsträhne aus der Stirn. Immer wenn ihn etwas ärgerte oder aufregte, spielte er an seinem Haar herum. Ich wandte mich langsam zu Drake um und versuchte, ihn ebenso mißbilligend anzusehen, wie meine Englischlehrerin Miß Marbleton es tat, wenn sich jemand schlecht benahm oder eine unpassende Bemerkung machte.
Doch Drake lachte spitzbübisch, und seine schwarzen Augen glänzten wie zwei funkelnde Edelsteine. Er konnte sich rasieren, so oft er wollte, immer lag auf seinen Wangen und seinem Kinn ein dunkler Schatten. Meine Mutter fuhr ihm oft liebevoll mit der Hand über die Wange und meinte, er solle die Stachelschweinborsten abrasieren.
»Drake«, sagte ich mit einem sanften Vorwurf in der Stimme.
»Nun, ist doch wahr, Annie, oder?« Drake war hartnäckig.
»Du hast jetzt schon mindestens ein halbes Dutzend Bilder gemalt, auf denen Luke durch den Park von Farthy spaziert.
Dabei ist er niemals dort gewesen.« Er hob die Stimme, um uns daran zu erinnern, daß er selbst sehr wohl in Farthinggale Manor gewesen war. Ich wandte den Kopf zur Seite, wie es meine Mutter tat, wenn ihr plötzlich etwas einfiel. Sollte Drake etwa eifersüchtig sein, weil ich immer nur Luke bat, mir Modell zu sitzen? Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, Drake zu malen, denn er hatte nicht die Geduld, lange stillzusitzen.
»Meine Bilder von Farthy sind immer anders«, rief ich verletzt. »Wie könnte es auch anders sein? Ich richte mich nur nach meiner Phantasie und dem wenigen, was ich von Mammi und Daddy erfahren habe.«
»Du glaubst doch nicht, daß irgend jemand das bemerken würde?« warf Luke ein und sah von seinen Englischbuch auf.
Drake
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