Nacht über Eden
über diese Frau eingezogen, ehe er sie eingestellt hatte. Meine Genesung bedeutete ihm so viel, daß er bestimmt die beste Krankenschwester ausgewählt hatte. Und doch wünschte ich, er hätte eine andere Frau gefunden, die mehr Wärme ausstrahlte, zu der ich Vertrauen fassen konnte und die noch etwas jünger war. Dann erinnerte ich mich daran, was Drake mir gesagt hatte: daß ich mich jetzt den Menschen anvertrauen sollte, die älter und erfahrener waren und die Dinge genauer überdachten, als ich es im Moment konnte.
»Ich denke, Sie sollten sich jetzt ausruhen und sich keine Sorgen mehr machen. Im Augenblick können wir sowieso nichts tun«, sagte Mrs. Broadfield, doch ihre Stimme klang immer noch kalt und schneidend. »Ihr Urgroßvater hat die beste Behandlung für sie organisiert, die man für Geld bekommen kann. Sie haben Glück, daß er für Sie da ist. Ich kannte viele Patienten, die viel weniger hatten als Sie.«
Ich nickte. Wie rasch er mir doch zu Hilfe geeilt war und wie sehr er sich dafür einsetzte, daß ich wieder gesund wurde! Jetzt erschien mir alles noch viel rätselhafter. Was hatte meine Mutter von einem Mann weggetrieben, der anscheinend ein so großes Herz besaß?
Ich war so müde. Mrs. Broadfield hatte recht, ich konnte jetzt nichts anderes tun, als mich auszuruhen und zu hoffen.
Ich hörte die Sirene des Krankenwagens, und undeutlich wurde mir bewußt, daß sie meinetwegen heulte.
6. KAPITEL
TONY TATTERTON
Während der restlichen Fahrt zum Flughafen schlief ich und erwachte erst, als man mich in das Krankentransportflugzeug brachte. Als mir wieder zu Bewußtsein kam, was geschehen war, war es, als hätte ich einen harten, kalten Schlag ins Gesicht erhalten. Es war kein Traum, es war die grausame Wirklichkeit. Mammi und Daddy waren tatsächlich tot, für immer von mir gegangen. Und ich war ernsthaft verletzt und gelähmt, all meine Träume und Pläne, all die wunderbaren Dinge, die Mammi und Daddy für mich erhofft hatten, waren in einem schrecklichen Augenblick auf einer Bergstraße zerstört worden.
Jedesmal, wenn ich erwachte, kam auch die furchtbare Erinnerung zurück. Ich sah wieder, wie der Regen gegen die Windschutzscheibe schlug, ich hörte Mammi und Daddy streiten und sah schließlich den anderen Wagen auf uns zukommen. Diese Erinnerung ließ mich innerlich aufschreien und erschütterte mich so sehr, daß ich froh war, wenn der Schlaf mich wieder übermannte und mir Linderung verschaffte. Doch wenn ich wieder erwachte, mußte ich der Realität abermals ins Auge sehen und durchlebte die grauenvollen Ereignisse aufs neue.
Ich war dankbar, daß ich wieder einschlief und erst am Bostoner Flughafen erwachte, wo man mich wieder in einen Krankenwagen hob. Jedesmal wenn ich aufwachte, war ich von der autoritären Art beeindruckt, mit der Mrs. Broadfield ihre Anweisungen gab. Das Krankenhauspersonal gehorchte ihr aufs Wort. Einmal hörte ich sie sagen: »Aufpassen, sie ist doch kein Mehlsack!« Drake hatte offensichtlich recht: Ich war in guten Händen. Wieder schlief ich ein und erwachte erst, als wir das Krankenhaus erreicht hatten. Ich spürte, daß jemand meine Hand hielt. Ich öffnete die Augen und sah Tony Tatterton neben mir.
Einen Augenblick lang glaubte ich zu träumen, denn auf seinem Gesicht lag ein so abwesender, entrückter Ausdruck, daß ich das Gefühl hatte, er wäre in eine andere Welt eingetaucht, während er mich ansah. Als er schließlich bemerkte, daß ich zu ihm aufblickte, glitt ein Lächeln über sein Gesicht.
»Willkommen in Boston. Ich habe dir ja gesagt, daß ich bei deiner Ankunft hier sein würde, um dich zu begrüßen und mich zu versichern, daß du alles hast, was du brauchst. Ist die Reise gut verlaufen?« fragte er besorgt.
Gestern, als ich ihn an meiner Seite gesehen hatte, war alles so unwirklich gewesen, daß ich mich nur undeutlich an ihn erinnern konnte. Jetzt betrachtete ich ihn zum erstenmal aufmerksamer. Seine Augenbrauen waren sorgfältig in Form gebürstet, und er war glatt rasiert. Auch sein graues Haar war tadellos geschnitten und sah so voll und gepflegt aus, als wäre es von einem Friseur gewaschen und in Form gebracht worden.
Er trug einen teuren grauen Seidenanzug mit weißen Nadelstreifen und eine dunkelgraue Krawatte. Seine Kleidung schien nagelneu. Als mein Blick auf seine Hand fiel, welche die meine umschloß, sah ich, daß seine aristokratischen Finger perfekt manikürt waren; die Nägel glänzten. Ja, er war ganz anders als
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