Nacht unter Tag
sie zu und stand noch einmal auf, um sich eine Cola light zu holen. Während sie aß, fasste sie Misha Gibsons Geschichte kurz zusammen.
»Und sie glaubt das, was dieser alte Knacker in Nottingham ihr erzählt hat?«, fragte er, lehnte sich zurück und verschränkte die Finger hinter dem Kopf.
»Ich vermute, sie ist die Art Frau, die im Allgemeinen das glaubt, was die Leute ihr sagen«, meinte Karen.
»Dann wäre sie also ’ne miserable Polizistin. Du wirst es zur Bearbeitung an die Zentralabteilung weitergeben, nehme ich an?«
Karen biss in ihr Sandwich und kaute kräftig, wobei sich an Kiefern und Schläfen ihre Muskeln wölbten und zusammenzogen wie ein Stressball in Aktion. Sie schluckte, bevor sie richtig zu Ende gekaut hatte, und spülte alles mit einem Schluck Cola light hinunter. »Weiß noch nicht«, antwortete sie. »Eigentlich ist es interessant.«
Phil warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Karen, es ist kein ungelöster Fall. Wir sind nicht berechtigt, uns damit abzugeben.«
»Wenn ich es an die Zentralabteilung weitergebe, werden sie das einfach liegen- und verkümmern lassen. Niemand da drüben wird sich um einen Fall kümmern, dessen Spuren sich vor zwanzig Jahren verloren haben.« Sie weigerte sich, seinem kritischen Blick standzuhalten. »Das weißt du genauso gut wie ich. Und laut Misha Gibson hat ihr Kleiner nur noch diese letzte Chance.«
»Dadurch wird immer noch kein ungelöster Fall daraus.«
»Nur weil er 1984 nicht bearbeitet wurde, bedeutet dies nicht, dass er jetzt nicht als ungelöst gilt.« Karen deutete mit dem letzten Stück ihres Brotes zu den Akten auf ihrem Schreibtisch. »Und keiner von denen da läuft davon. Darren Anderson – da kann ich nichts machen, bis die Polizei auf den Kanaren sich dransetzt und herausfindet, in welcher Bar seine Exfreundin arbeitet. Ishbel Mackindoe – hier heißt es warten, bis das Labor mir mitteilt, ob sie den anonymen Briefen brauchbare DNA entnehmen können. Patsy Miller – damit kann ich nicht weitermachen, bis die Met den Garten in Haringey vollends umgegraben hat und die gerichtsmedizinische Untersuchung beendet ist.«
»Im Fall Patsy Miller gibt es Zeugen, mit denen wir noch einmal reden könnten.«
Karen zuckte mit der Schulter. Sie wusste, dass sie ihren höheren Dienstgrad gegen Phil ausspielen und ihn so zum Schweigen bringen konnte, aber der ungezwungene Umgang zwischen ihnen war ihr wichtiger. »Die laufen nicht weg. Oder du kannst einem von den Durchläufern ein praktisches Training ermöglichen.«
»Wenn du meinst, dass sie praktisches Training brauchen, solltest du ihnen diesen uralten Fall eines Vermissten zuteilen. Du bist jetzt Inspector, Karen, und solltest nicht wegen solcher Dinge herumrennen.« Er wies auf die zwei Durchläufer, die an ihren Computern saßen. »Das ist doch was für die. Hier geht es eher darum, dass du dich langweilst.« Karen versuchte ihm zu widersprechen, aber Phil redete einfach weiter. »Vor deiner Beförderung habe ich dir ja gesagt, dass du bei der Schreibtischarbeit durchdrehen würdest. Und jetzt guck dich doch mal an. Du klaust den Uniformierten in der Zentralabteilung die Fälle. Demnächst ziehst du los und führst selbst Befragungen durch.«
»Na und?« Karen zerknüllte die Sandwichverpackung mit mehr Kraft, als eigentlich nötig war, und warf sie in den Papierkorb. »Es ist gut, am Ball zu bleiben. Und ich werd dafür sorgen, dass alles regulär zugeht. Ich nehme DC Murray mit.«
»Den Minzdrops?« Phil klang ungläubig und schien beleidigt. »Du würdest lieber den Minzdrops mitnehmen als mich?« Murrays Kollegen nannten ihn »den Minzdrops«, weil sie sich von seinem Namen an die klassischen Murray-Mint-Bonbons erinnert fühlten.
Karen lächelte freundlich. »Du bist jetzt Sergeant, Phil. Ein Sergeant mit Ehrgeiz. Im Büro zu bleiben und meinen Stuhl warm zu halten wird dir helfen, deine Hoffnungen zu verwirklichen. Außerdem ist der Minzdrops nicht so schlecht, wie du vorgibst. Er tut immerhin, was man ihm sagt.«
»Das macht ein Collie auch. Aber ein Hund würde mehr Initiative zeigen.«
»Das Leben eines Kindes steht auf dem Spiel, Phil. Ich habe mehr als genug Initiative für uns beide. Es muss richtig gemacht werden, und dafür werde ich sorgen.« Sie drehte sich zu ihrem Computer um und machte damit deutlich, dass diese Unterhaltung beendet war.
Phil machte den Mund auf, um noch etwas zu sagen, aber als er Karens strengen Blick bemerkte, besann er sich eines
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