Nacht unter Tag
zurückzuhalten und ganz gelassen aufzustehen.
»Susan Charleson«, stellte sich die Frau vor und streckte ihr die Hand hin. »Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Wie sagte doch Harold Macmillan einmal: ›Zwischenfälle, meine lieben Jungen. Zwischenfälle.‹«
Bel beschloss, sie nicht darauf aufmerksam zu machen, dass Harold Macmillan von der Tätigkeit eines Premierministers und nicht von der einer Amme eines Industriekapitäns gesprochen hatte. Sie ergriff die warmen trockenen Finger mit ihrer Hand. Ein kurzer fester Druck, dann war sie entlassen. »Annabel Richmond.«
Susan Charleson ging an dem Sessel gegenüber von Bel vorbei auf den Tisch am Fenster zu. Auf dem falschen Fuß erwischt, schnappte sich Bel ihre Tasche sowie die Ledermappe und folgte ihr. Die Frauen setzten sich einander gegenüber, und Susans Lächeln glich einem Strich kalkweißer Zahnpasta zwischen den dunkelrosa geschminkten Lippen. »Sie wollten Sir Broderick sprechen«, sagte sie. Keine Einleitung, kein Geplauder über die Aussicht. Einfach direkt zur Sache. Bel hatte diese Taktik selbst gelegentlich benutzt, aber das hieß nicht, dass es ihr gefiel, wenn der Spieß umgedreht wurde.
»Das stimmt.«
Susan schüttelte den Kopf. »Sir Broderick spricht nicht mit der Presse. Ich fürchte, Sie haben Ihre Reise umsonst gemacht. Ich habe Ihrem Assistenten das erklärt, aber er ließ sich nicht abweisen.«
Jetzt war Bel mit einem kühlen Lächeln an der Reihe. »Das hat er gut gemacht. Ich habe ihn offensichtlich richtig geschult. Aber hier scheint ein Missverständnis vorzuliegen. Ich bin nicht gekommen, weil ich um ein Interview bitten möchte. Sondern weil ich glaube, ich habe etwas, das Sir Broderick interessieren wird.« Sie hob die Mappe an und zog den Reißverschluss auf. Dann nahm sie ein einzelnes dickes Blatt im DIN -A3-Format mit der Rückseite nach oben heraus. Es war verschmutzt und verströmte den schwachen Geruch einer merkwürdigen Mischung aus Staub, Urin und Lavendel. Bel konnte nicht widerstehen und warf Susan Charleson einen schnellen, spöttischen Blick zu. »Möchten Sie es sehen?«, fragte sie und drehte das Blatt um.
Susan nahm ein Lederetui aus ihrer Rocktasche und holte eine Hornbrille heraus. Sie ließ sich Zeit fürs Aufsetzen, wandte aber nie den Blick von den schlichten schwarzweißen Figuren vor sich ab. Das Schweigen zwischen den beiden Frauen wurde länger, und Bel wartete fast atemlos auf eine Reaktion. »Woher haben Sie das?«, wollte Susan im pedantischen Ton einer Lateinlehrerin wissen.
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Montag, 18. Juni 2007,
Campora, Toskana, Italien
U m sieben Uhr morgens konnte man fast glauben, dass die brütende Hitze der vergangenen zehn Tage heute nicht zurückkehren würde. Perlmuttfarbenes Tageslicht schimmerte durch das Blätterdach der Eichen und Kastanienbäume und machte die Stäubchen sichtbar, die von Bels Füßen in Spiralen aufwärtswirbelten. Sie lief so langsam, dass ihr dies auffiel. Der unbefestigte Weg durch den Wald war furchig und uneben. Der darauf gestreute spitze Schotter ließ wohl jeden Jogger an die Empfindlichkeit seiner Fußgelenke denken.
Nur noch zwei dieser geliebten Läufe am frühen Morgen, bevor sie in die stickigen Straßen Londons zurückkehren musste. Der Gedanke rief ein leichtes, schmerzliches Bedauern hervor. Bel liebte es, aus der Villa hinauszuschlüpfen, wenn alle anderen noch schliefen. So konnte sie barfuß über die kühlen Marmorböden gehen und so tun, als sei sie die Herrin des ganzen Anwesens, nicht nur irgendein Feriengast, der sich ein Stückchen toskanischer Eleganz geborgt hatte.
Seit sie im letzten Studienjahr in Durham mit fünf Freundinnen in einer Wohngemeinschaft zusammengelebt hatte, fuhren sie immer gemeinsam in den Urlaub. Beim ersten Mal hatten sie alle für ihr Examen gebüffelt. Die Eltern einer Kommilitonin hatten ein Häuschen in Cornwall, in dem sie sich für eine Woche niederließen. Sie hatten es als Arbeitsurlaub bezeichnet, aber in Wirklichkeit war es eher eine Erholungspause gewesen, die sie erfrischt, entspannt und besser für das Examen vorbereitet hatte, als wenn sie über Büchern und Artikeln gebrütet hätten. Und obwohl sie modern, jung und nicht abergläubisch waren, hatten sie alle das Gefühl gehabt, ihre guten Abschlüsse irgendwie dieser gemeinsamen Woche zu verdanken. Seit damals hatten sie sich immer im Juni zu einem Treffen versammelt, das dem Vergnügen gewidmet war.
Im Lauf der Jahre wählten sie die Getränke
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