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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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folgen sollte.
    In meinem Schlüsselmoment gibt es dünne, senkrechte Holzgitter. Ein Kinderbett oder ein Laufstall, vermute ich. Ich weiß nicht, worauf ich stehe, aber ich sehe meine Hände; die kleinen, mit Babyspeck gepolsterten Finger klammern sich an die Gitterstäbe. Meine Fingernägel sind schmutzverkrustet, und ein merkwürdiger Geruch umgibt mich. Im Lauf der Jahre fand ich heraus, dass es eine Mischung aus Urin, Marihuana, Alkohol und dem Mief ungewaschener Körper war. Der für die meisten Leute abstoßende Geruch der Obdachlosen, der Bewohner der weniger schönen Ecken großer Weltstädte, hat für mich bis heute etwas Tröstliches. Obdachlose riechen für mich nach Heimat.
    Und schon schweife ich ab. Merken Sie das? Weil diese dunkle Erinnerung mich immer noch zutiefst erzittern lässt.
    Vor mir läuft eine Filmszene ab, die von den Gitterstäben unterteilt wird. Meine Mutter trägt eine leuchtend orangefarbene Bluse, die der Mann mit seiner Faust gepackt hält. Er schüttelt meine Mutter, wie es ein Hund mit einer Ratte oder einem Kaninchen machen würde. Und er schreit sie an. Ich verstehe die Worte nicht, es ist nur eine Reihe scharfer, brutaler Laute. Meine Mutter schluchzt. Jedes Mal, wenn sie etwas sagen will, schlägt er ihr grob ins Gesicht. Ihr Kopf kippt zur Seite, als säße er auf einer Sprungfeder. Aus einem Nasenloch sickert ein dünnes Rinnsal Blut. Sie versucht, ihn mit den Händen abzuwehren, aber er bemerkt es nicht einmal, denn er ist viel stärker als sie.
    Dann fährt sie mit einer Hand herunter, legt sie auf seinen Hosenschlitz und streichelt ihn durch den dreckverkrusteten Jeansstoff. Sie schmiegt sich an seinen Körper, ganz nah, damit er sie nicht schlagen kann. Er hört auf zu schreien, lässt aber ihre Bluse nicht los. Er zieht ihren Rock hoch, stößt sie zu Boden und bringt sie erneut zum Weinen. Nur auf andere Art und Weise.
    Das ist meine früheste Erinnerung. Und ich wünschte, es wäre die schlimmste.

Teil eins

1
    Dienstag
    N ormalerweise hätte Charlie Flint die ganze Medienberichterstattung über den Prozess gegen Philip Carlings Mörder verfolgt. Es ging dabei nicht unbedingt um die Art von Verbrechen, das in ihr Fachgebiet fiel, aber es gab gute Gründe, weshalb dieser bestimmte Fall für sie von Interesse sein konnte. Zu diesem Zeitpunkt war ihr Leben jedoch vollkommen aus den Fugen geraten. Ihre Karriere lag in Scherben. Dass sie ihren guten Ruf verloren hatte, dass ihr verboten war, das zu tun, was immer ihre Stärke gewesen war, und dass ihr weiterhin ein Gerichtsverfahren drohte – das allein wäre schon genug gewesen, um Charlie von den Nachrichten abzulenken. Aber das war noch nicht alles.
    Charlie war verliebt, und sie hasste es. Das war der eigentliche Grund, weshalb sie viele Dinge gar nicht beachtete, die sie normalerweise fasziniert hätten.
    Das stechende Prickeln des Wasserstrahls der Dusche auf Schultern und Rücken kam ihr wie eine wohlverdiente Strafe vor. Sie versuchte, sich abzulenken, doch weder ihr Kopf noch ihre Gefühle machten mit. Heute Vormittag war, wie an jedem Morgen der letzten sechs Wochen, Lisa Kent der einzige Tagesordnungspunkt auf Charlies innerer Agenda. Im Lauf des Tages gelang es Charlie meist, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Dinge zu lenken, die tatsächlich von Belang waren. Aber solange sie ihre Abwehrmechanismen noch nicht in Gang gesetzt hatte, stand ganz oben auf der Prioritätenliste diese verdammte Lisa Kent. Und das sind die Argumente dagegen, dachte sie bitter: schlechtes Timing, fehlende Gemeinsamkeiten, völlig ungeeignete Frau.
    Seit sieben Jahren war Charlie mit Maria zusammen. Als seien die Schuldgefühle nicht genug, war die Demütigung, ein Klischee zu leben – das verflixte siebte Jahr –, für sie eine zusätzliche Belastung. Sie hatte überhaupt erst angefangen, sich Gedanken darüber zu machen, nachdem Lisa sich in ihr Leben geschlichen hatte. Aber jetzt war es viel mehr als eine kleine Irritation. Es war ein riesiges Dilemma, eine Besessenheit, die rücksichtslos über ihr Leben hereingebrochen war. Aus jedem noch so harmlosen Ereignis, aus jeder Bemerkung sprach für Charlie plötzlich Lisas kritischer Blick oder ihr lässiges Lachen.
    »Scheiß drauf«, sagte Charlie wütend und strich sich das schwarze Haar mit den Silberfäden aus dem Gesicht. Sie drehte energisch das Wasser der Dusche ab und stieg aus der Kabine.
    Maria fing ihren Blick im Badezimmerspiegel auf. Das Rauschen des Wassers hatte

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