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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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sie nur ratlos. »Wie eigenartig«, sagte Charlie.
    »Was ist es denn?«
    Charlie durchblätterte den Papierstoß und runzelte die Stirn. »Kopien von Presseartikeln. Über einen Mord, der im Old Bailey verhandelt wird.«
    »Ein alter Fall?«
    »Ich glaube, er ist noch nicht abgeschlossen. Ich habe flüchtig zwei Berichte darüber gelesen. Diese zwei aalglatten Yuppies, die ihren Geschäftspartner an seinem Hochzeitstag ermordet haben. Im Scholastika College. Deshalb blieb es mir im Gedächtnis.«
    »Ja, du hast es erwähnt. Ich erinnere mich. Haben sie ihn nicht unten bei den Booten oder so ins Wasser geworfen?«
    »Stimmt. Zu meiner Zeit wäre so was nicht passiert«, murmelte Charlie zerstreut, denn sie konzentrierte sich auf die Zeitungsausschnitte.
    »Wer hat dir das denn geschickt? Worum geht’s da?«
    Charlie zuckte mit den Achseln, aber ihr Interesse war geweckt. »Weiß nicht. Keine Ahnung.« Sie breitete die Blätter fächerförmig aus, um zu sehen, ob sie irgendwo den Absender ausmachen konnte.
    »Ist kein Begleitschreiben dabei?«
    Charlie sah noch einmal im Kuvert nach. »Nee. Nur die Fotokopien.« Wenn es von Lisa kam, war das vollkommen unbegreiflich. Mit einer Therapie hatte dies wohl kaum etwas zu tun, und ein Liebesgruß war es genauso wenig.
    »Es ist also ein Rätsel«, schloss Maria, aß ihr letztes Stück Toast und erhob sich, um ihr Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine zu stellen. »Eigentlich ist das unter deinem Niveau, aber es könnte immerhin eine Chance sein, deine ermittlungstechnischen Fähigkeiten in Schuss zu halten.«
    Charlie stieß leise einen abfälligen Laut aus. »Jedenfalls habe ich jetzt etwas, über das ich während der Aufsicht nachgrübeln kann.«
    Maria beugte sich hinüber und küsste Charlie aufs Haar. »Ich werde darüber nachdenken, während ich meine Patienten quäle.«
    Charlie schreckte zurück. »Sag so was nicht. Nicht wenn du willst, dass ich mich jemals wieder von dir behandeln lasse.«
    »Was, dass ich Patienten quäle?«
    »Nein, dass du davon sprichst, beim Bohren an etwas anderes zu denken. Es ist zu erschreckend, sich das vorzustellen.«
    Maria grinste und zeigte dabei, wie zu erwarten, ein perfektes Zahnarztlächeln. »Du Angsthase«, scherzte sie, drohte mit dem Finger, wiegte sich zum Abschied in den Hüften und ging aus der Küche hinaus. Charlie starrte niedergeschlagen hinter ihr her, bis sie hörte, dass sich die Haustür schloss. Dann gab sie mit einem tiefen Seufzer die beiden Weetabix in die Schachtel zurück und stellte ihre Müslischale in die Spülmaschine.
    »Rutsch mir den Buckel runter, Lisa«, murmelte sie, während sie die Blätter zusammenschob, sie wieder in den Umschlag steckte und aus dem Zimmer stapfte.

2
    D en Menschenmassen, die zur Arbeit eilten, als Heimkommende entgegenzugehen, erinnerte Magdalene Newsam an ihre Zeit als Ärztin im Praktikum. Dieses Gefühl, aus dem Üblichen herauszufallen und einem Lebensrhythmus zu folgen, der der Zeiteinteilung aller anderen zuwiderlief, hatte ihr am Ende einer anstrengenden Nachtschicht immer Auftrieb gegeben. Sie mochte so erschöpft sein, dass ihre Finger zitterten, wenn sie den Hausschlüssel ins Schloss schob, aber zumindest hob sie sich vom Rest der Herde ab. Sie hatte einen Weg gewählt, der sie zu etwas Besonderem machte.
    Wenn sie jetzt darüber nachdachte, tat ihr diese frühere Magda leid. Sich an etwas so Triviales als Beweis ihrer Individualität zu klammern schien ihr armselig. Aber damals hatte Magda so viele interessante Möglichkeiten ausgeschlagen, dass sie jede Chance hatte ergreifen müssen, um sich als unabhängige Person zu sehen.
    Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Alles war jetzt so anders. Der Grund, weshalb sie sich durch die entgegenkommende, der U-Bahn zustrebende Menge kämpfte, hätte nicht weiter von den damaligen Ursachen entfernt sein können. Jetzt ging es nicht um Arbeit, sondern um Vergnügen. Sie war nicht wegen der Krise eines Patienten die halbe Nacht wach gewesen, sondern weil sie und ihre Freundin sich immer noch genauso unwiderstehlich fanden wie am Anfang. Die halbe Nacht wach und nicht müde, sondern aufgekratzt und nur körperlich erschöpft wegen ihrer Leidenschaft, nicht weil sie sich um andere Menschen hatte kümmern müssen, die Schmerzen litten.
    Als sie auf den Tavistock Square einbog und sich der imposanten Portlandzement-Fassade des Wohnblocks gegenübersah, in dem sie noch immer wohnte, wurden ihre Glücksgefühle getrübt.

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