Nacht unter Tag
Charlie überhören lassen, dass sie hereingekommen war. »Hast du’n schwierigen Tag vor dir?«, fragte sie mitfühlend und hielt inne, während sie Wimperntusche auftrug, die das Nussbraun ihrer Augen hervorhob.
»Anzunehmen«, sagte Charlie und versuchte, ihre Bestürzung zu verbergen. »Ich kann mich kaum daran erinnern, dass ich mal einen guten Tag hatte.« Was hatte sie in der Dusche laut gesagt? Wie lange hatte Maria schon hier gestanden?
Marias Mund zuckte leicht gequält, als sie die Styling Creme in ihr welliges braunes Haar knetete und sich kritisch betrachtete. »Ich muss zum Friseur«, meinte sie zerstreut, bevor sie sich umdrehte, um ihre Aufmerksamkeit ihrer Partnerin zuzuwenden. »Es tut mir leid, Charlie. Ich wünschte, ich könnte etwas tun.«
»Ich auch.« Keine freundliche Antwort, aber zu mehr reichte es nicht. Während Charlie sich die Haare mit einem Handtuch trocknete, zwang sie sich zu einem nüchternen Blick auf die Realität. Wenn man sich verliebte und schon eine Beziehung hatte, die man nicht beenden wollte, war das Problem – nein, eines der
vielen
Probleme, dass man zickig wurde und aus allem immer gleich ein Drama machte. Man mutierte zu einer Art manischem Egozentriker. Aber in Wirklichkeit hatte Maria nichts gehört als die Klage einer in Ungnade gefallenen Gerichtspsychiaterin, die sich einer ungewissen Zukunft gegenübersah. Eine Expertin mit Talent, die ungerechterweise auf ein Nebengleis abgeschoben worden war. Maria hatte keinen Verdacht geschöpft.
Erneut von Schuldgefühlen überwältigt, beugte sich Charlie vor, küsste Maria auf den Nacken, und irgendwie machte es sie glücklich, das leise Erschauern ihrer Freundin wahrzunehmen.
»Ignorier mich einfach«, sagte sie. »Du weißt ja, wie begeistert ich davon bin, bei Prüfungen die Aufsicht zu führen.«
»Ich weiß. Es tut mir so leid. Du hast Besseres verdient.«
Charlie glaubte, eine Spur Mitleid in Marias Stimme zu hören, und das gefiel ihr nicht. Ob es tatsächlich da gewesen war oder ob sie es sich eingebildet hatte, machte keinen großen Unterschied. Sie hasste es, in einer Lage zu sein, in der andere sie bemitleideten. »Das Schlimmste daran ist, dass es einem so wenig abverlangt. Es gibt zu vielen grauen Zellen Zeit, sich über all die Dinge zu beklagen, die ich lieber tun würde oder, verdammt noch mal, tun
sollte.
« Sie trocknete sich vollends ab und hängte das ordentlich gefaltete Handtuch über die Stange. »Bis gleich.«
Fünf Minuten später erschien sie in einer frischen weißen Baumwollbluse und schwarzen Jeans einen Stock tiefer und setzte sich an den Frühstückstisch, den sie bereits gedeckt hatte, während Maria sich duschte. Dieses morgendliche Ritual war immer noch ein beruhigender Fixpunkt in Charlies emotionalem Chaos. Selbst wenn sie nicht zur Arbeit gehen musste, stand sie trotzdem zur gewohnten Zeit auf und durchlief das vertraute Programm. Wie immer bestrich Maria ihren Vollkorntoast mit Marmite. Mit dem Messer wies sie auf ein großes gepolstertes Kuvert neben der Schale, in der Charlies zwei Weetabix lagen. »Der Briefträger war da. Ich begreife immer noch nicht, wieso du wegen den Dingern Cornflakes aufgegeben hast«, fügte sie hinzu und deutete auf die Vollkornweizen-Kekse. »Sie sehen wie Slipeinlagen für Masochistinnen aus.«
Charlie entfuhr ein überraschtes schnaubendes Gelächter. Aber dann meldeten sich sofort wieder die Schuldgefühle. Wenn Maria sie so zum Lachen bringen konnte, wie war es da möglich, dass sie in Lisa verknallt war? Sie nahm das Kuvert in die Hand. Aus der mit Computer geschriebenen und ausgedruckten Adresse ließ sich nichts ersehen, aber der Poststempel aus Oxford drehte ihr fast den Magen um. Lisa würde doch nicht …? Sie war schließlich selbst Therapeutin, wieso sollte sie eine Bombe auf den Frühstückstisch abwerfen und einen Beziehungskrach provozieren? Oder doch? Wie gut kannte Charlie sie wirklich? Einen Moment erstarrte sie in Panik.
»Was Interessantes?«, fragte Maria und brach den Bann.
»Ich erwarte eigentlich nichts.«
»Mach’s doch auf. Schließlich hast du keine Röntgenaugen.«
»Ja. Meine Tage als Supergirl sind leider schon lange Vergangenheit.« Charlie richtete es so ein, dass Maria nicht den Inhalt sehen konnte, während sie die Lasche aus dem Umschlag zog. Verwirrt starrte sie auf ein Bündel fotokopierter Blätter und zog sie dann langsam aus dem Umschlag. Sie schienen keine Bedrohung darzustellen, sondern machten
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