Nachtblauer Tod
verputzte beide Sahnestücke, stürzte dann das Mineralwasser herunter und rülpste in die offene Handfläche.
Schiller wandte sich ab. Sie hasste sein Rasierwasser, und sie ertrug es, um keinen Streit heraufzubeschwören, aber nach jeder Tatortbesichtigung klatschte er sich zu viel davon ins Gesicht. Er trug das Zeug immer bei sich.
Im Grunde verstand sie das. Manchmal war der Gestank am Tatort einfach bestialisch. Sie tupfte sich immer japanisches Heilöl unter die Nasenflügel. Das half ihr und belästigte nicht die anderen, zumindest hoffte sie das.
Büscher stand auf. »Knöpfen wir uns den Jungen vor. Wir können nicht ewig warten.«
»Ich weiß«, maulte sie, »die meisten Massaker passieren in den Familien. Die Chance, von den eigenen Verwandten umgebracht zu werden, ist viel größer als die, einem Fremden zum Opfer zu fallen. Aber der Junge hat ein Alibi …«
»Alibi? Schönes Alibi, Löckchen. Laut übereinstimmender Aussage von Jessy Schmidt und dieser Johanna Fischer hat er die Party zwischen zwölf und zwei Uhr überstürzt verlassen und ist später wieder zurückgekehrt, um dort zu übernachten. Er hätte Zeit genug gehabt, um das Blutbad anzurichten und …«
»Schon gut, schon gut. Ich komme.«
5
Als Leon erwachte, war der Blutgeruch nur noch eine Erinnerung. Das Rasierwasser von Kommissar Büscher mit dem Hauch von Weihrauch hing schwer im Raum und überlagerte die Desinfektionsmittel, obwohl er sich gar nicht mehr im Krankenzimmer befand.
Und da war sie wieder, die undurchdringliche Eisdecke über ihm.
Leon versuchte aufzustehen, aber die Kälte lähmte seine Muskeln diesmal schlimmer als unter Wasser. Er wollte schreien, aber auch das ging zunächst nicht. Er konnte nicht atmen. Alles war wie damals, nur diesmal lag er im Bett.
Seine Lungenflügel brannten, als ob er Salzsäure eingeatmet hätte. Er ballte die Fäuste, machte ein Hohlkreuz und bog sich im Bett durch. Er sah wieder, wie sein Vater auf der Liege in den Rettungswagen geschoben wurde, dann seine Mutter, aber nicht als Leiche tot im Bett, sondern lebend, wie sie ihm vorlas. Er lag krank im Bett. Eine Magen-und-Darm-Grippe machte ihn fertig. Sie wachte mit einem Buch bei ihm.
Wie oft hatte er das erlebt. Ihre warme Stimme zog ihn in eine Geschichte. Sie rasselte nicht einfach einen Text herunter. Sie erweckte ihn zum Leben, gab den Figuren eigene Stimmen, sie flüsterte, wurde ärgerlich, geheimnisvoll und entführte ihn in ihre Welt. Sie ließ ihn Schmerzen vergessen und gab ihm das Gefühl, geliebt zu werden. Er vergaß die Magenkrämpfe und ließ sich mit sanftem Gruseln verzaubern.
Eine erste Träne löste sich aus seinem linken Auge und rann wie eine durchsichtige kleine Schnecke über sein Gesicht bis zu seinen Lippen. Ihr folgten weitere. Als er sich seiner Tränen bewusst wurde, löste sich sein Krampf. Er konnte wieder atmen und schrie seine Trauer und Verzweiflung heraus.
Kommissar Büscher öffnete die Tür, er zögerte einen Moment, aber dann trat er an Leons Bett.
Er berührte Leons Unterarm und sagte mit belegter Stimme: »Es tut mir leid, was passiert ist, Leon. Aber ich muss dir einige Fragen stellen, auch wenn es schwerfällt.«
Hinter Birte Schiller drängte sich Dr. Juliane Stindl ins Krankenzimmer.
»Oh nein, Herr Kommissar, das werden Sie nicht. Bitte verlassen Sie das Zimmer. Es tut dem Kind nicht gut, wenn Sie jetzt …«
Frau Dr. Stindl schob Büscher zur Seite und legte Leon ein Blutdruckmessgerät an. Sie pumpte es mit einem Knopfdruck auf und drückte damit Leons Oberarmmuskeln zusammen.
Sie war so unglaublich schön, dass ihr Auftritt Büscher für einen Moment schwer irritierte. Sie trug die langen, hennaroten Haare streng nach hinten gebunden. Ihre Gesichtszüge waren um die Augen herum leicht asiatisch, der große Mund hingegen und ihr Kinn wirkten eher europäisch. Ihre ganze Erscheinung hatte etwas Unwirkliches an sich, als sei sie keine echte Ärztin, sondern eher eine arabische Bauchtänzerin oder eine indianische Schamanin, die sich den weißen Arztkittel nur aus Tarnungsgründen übergezogen hatte.
Ihre Stimme klang rauchig, als sei sie seit langem erkältet. Um so eine Stimme, dachte Büscher, wird sie von so mancher Bluessängerin beneidet werden.
»Sie lassen uns nicht mit dem Vater sprechen und auch nicht mit dem Sohn. Sie bewegen sich am Rande der Strafvereitelung, Frau Doktor …«
Er beugte sich vor, um das Schildchen an ihrer Brust besser lesen zu
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