Nachtfalter
einer Billigkette erstanden hat. Die Wand begräbt bei ihrem Einsturz die pseudokorinthische Vase mit den vergoldeten Artischocken unter sich, während der von der Decke baumelnde, mehrarmige Leuchter wie ein Weihrauchkessel aussieht, den ein Pope lässig hin- und herschwenkt.
Adriani fährt aus ihrem Sessel hoch und rennt unter den Türrahmen.
»Was soll das denn?« rufe ich.
»Bei einem Erdbeben soll man sich immer unter den Türrahmen stellen. Das ist der einzige Teil, der stehenbleibt«, sagt sie zitternd.
Ich werfe den Dimitrakos von mir, packe sie an der Hand und schleife sie zur Haustür, während die Zimmerwände mal aufeinander zustürzen, mal wieder ins Lot kommen.
Als wir durch die Tür stolpern, löst sich gerade ein Teil des Daches. Ich spüre, wie die Splitter um mich herumfliegen und Tausende kleiner Nadelstiche meine Haut durchdringen.
Kaum haben wir das Haus verlassen, höre ich eine Frauenstimme rufen: »Hilfe! Hilfe!«
»Lauf bloß schnell weg!« rufe ich Adriani zu und laufe in Richtung der Stimme.
Stawria, die Frau des Bruders meines Schwagers, steht auf der Treppe. Sie hält ihre beiden Jungen fest an der Hand und schreit hysterisch um Hilfe.
»Die Kinder, Kostas! Nimm die Kinder!«
Ich spüre beim Hinaufgehen, wie die Treppe bedrohlich zittert, als würde sie jeden Augenblick unter mir zusammenbrechen. Ich packe die beiden Kinder, doch der Dreikäsehoch beginnt heftig nach mir zu treten.
»Mein Ball, ich will meinen Ball haben!«
»Jetzt ist nicht der Augenblick zum Ballspielen«, sage ich zu ihm, doch er läßt nicht davon ab, meine Schienbeine zu traktieren und nach seinem Ball zu schreien.
»Macht schon, ich werf euch den Ball runter!« ruft Stawria von oben.
»Bleib bloß draußen!« rufe ich, doch sie ist bereits im Inneren des Hauses verschwunden.
Sobald wir die letzte Treppenstufe erreichen, kommt der Ball hinter uns hergeschossen. Der Dreikäsehoch läßt meine Hand los und will ihn an sich reißen, während ein fürchterlicher Krach von berstendem Glas und Stawrias klagende Stimme aus dem Haus dringen.
»Mein Leuchter!«
Schlagartig hört das Beben auf, anscheinend legt es eine kleine schöpferische Pause ein. Stawria tritt mit zerrauften Haaren auf die Türschwelle. »Mein Leuchter ist hin!«
Sie besitzt den gleichen Leuchter wie mein Schwager. Keine Ahnung, warum sie die im Doppelpack gekauft haben. Vielleicht, um die Osternacht zu Hause zu feiern. Man schaltet sie ein, zündet seine Osterkerzen an, tauscht den Gruß »Christus ist auferstanden« aus und erspart sich die Mühe, dreihundertfünfzig Stufen bis zur Höhlenkapelle der Heiligen Jungfrau hochzujapsen.
»Jetzt laß mal den Leuchter und komm runter, bevor es mit dem Erdbeben wieder losgeht«, sage ich.
Sie würdigt mich keines Blickes. Sie sitzt auf dem Treppenabsatz und kämpft mit den Tränen.
»Ist der Basketballkorb heil geblieben?« fragt der Knirps voller Besorgnis.
»Dein Basketballkorb ist mir Wurscht«, entgegnet sie wie ein bockiges Kind.
»Jedenfalls: Der letzte Korb, den du geworfen hast, zählt nicht. Du hast mich gefoult«, sagt der Steppke zum Dreikäsehoch.
2
D er Marktplatz des Inselhauptortes liegt etwas erhöht und sieht wie das Konzertpodium einer dörflichen Blaskapelle aus. Drei Sträßchen kreuzen sich auf dem Marktplatz. Das eine schlängelt sich aus dem Ort hinaus, das zweite führt zur Endhaltestelle der Buslinie, die zwischen dem Hafen und dem Hauptort verkehrt, und das dritte endet vor der Kirche. In den engen Gassen rund um den Marktplatz spielt sich das gesamte Leben des Ortes ab – im unmittelbaren Umfeld eines Tante-Emma-Ladens, einer Gemüsehandlung mit Fleischtheke und eines Geschäfts, in dem von Kunsthandwerk bis zu Gummistiefeln alles zu finden ist. Dann sind da noch das Kafenion des Bruders meines Schwagers, eine Taverne, ein altmodischer Biergarten und zwei Souflakibuden, wovon sich die eine einen internationalen Anstrich gibt, die andere auf griechisches Flair setzt. Die internationale Souflakibude unterscheidet sich von der griechischen darin, daß ihr Namensschild sie nicht als »Grillstube« ausweist, sondern hochtrabend als »Souflaquerie« bezeichnet. Augenscheinlich glaubt der Wirt, die vielen französischen Touristen so auf seine Seite ziehen zu können. Vermutlich ein Schlag ins Wasser, denn die griechischen Gäste ziehen die einheimische Grillstube der Souflaquerie vor, und die Franzosen, die möglicherweise der Souflaquerie den Vorzug gegeben
Weitere Kostenlose Bücher